Gewalt in Brasília "Spaltung auch in Staatsinstitutionen"
Bei dem Angriff auf Brasiliens Demokratie ist unklar, welche Staatsinstitutionen und Sicherheitskräfte involviert waren, sagt Lateinamerika-Expertin Reder. Präsident Lula könne sie jedenfalls nicht geschlossen hinter sich wissen.
tagesschau24: Wie interpretieren Sie, was gestern in Brasilien passiert ist?
Désirée Reder: Was wir sehen, ist ein massiver Angriff auf die drei Gewalten des brasilianischen Staates. Es wurde nicht nur das Kapitol angegriffen, sondern auch der Regierungspalast und das oberste Gericht.
Das heißt, es war ein Angriff auf die Exekutive, auf die Legislative und auf die Judikative. Es scheint dadurch sehr, sehr stark koordiniert zu sein. Diese Angriffe haben zeitgleich stattgefunden und stellen de facto einen Angriff auf die Demokratie dar.
tagesschau24: Wenn Sie sagen, es war koordiniert, dann heißt das, diese Mobilisierung war nicht spontan, sondern geplant?
Reder: Davon ist auszugehen. Bisher gibt es noch nicht wirklich gesicherte Erkenntnisse. Allerdings gibt es schon seit November und Oktober Aufrufe zu einem Staatsputsch, zu Unruhen, zu koordiniertem Chaos, um die Regierung von Lula da Silva zu delegitimieren oder auch die Rückkehr des vorherigen Präsidenten Jair Bolsonaro durch einen Ausnahmezustand zu begünstigen.
"Nicht klar, welche staatlichen Institutionen involviert waren"
tagesschau24: Und wenn dieser Ausnahmezustand geplant war, ist das für Sie eine neue Dimension? Hat das eine andere Bedeutung, als wenn es eine spontane Bewegung gewesen wäre?
Reder: Ja, davon ist auszugehen. Eine spontane Bewegung ist normalerweise nicht koordiniert. Da finden sich Sympathisanten oder Menschen mit ähnlichen Grundsätzen zusammen und verfolgen ein Ziel - aber es ist eben nicht koordiniert, es gibt keinen größeren Plan dahinter.
Hier scheint es eine größere Vision zu geben. Es ist nicht ganz klar, welche staatlichen Institutionen in welchem Sinne mit involviert waren oder welche individuellen Akteure von staatlichen Institutionen. Einige Mitglieder der Polizei haben sich den Demonstranten, die das Kapitol stürmen wollten, entgegengestellt, andere haben die Demonstranten sogar begleitet. Und auch beim Militär ist nicht ganz klar, welche Rolle dieses spielt.
Die Demonstranten haben schon wochenlang, zum Teil Monate, vor Militärbarrikaden gecampt und einen Staatsputsch gefordert. Sie haben das Militär angehalten einzugreifen, und das Militär hat sich dem nicht entgegengestellt.
"Kongress ist stark nach rechts gerückt"
tagesschau24: Aber wie schätzen Sie denn die Rolle von Militär und Polizei ein? Ist das vielleicht ein Zeichen für das gespaltene Land Brasilien?
Reder: Definitiv. Wir sehen eben nicht nur eine Spaltung der Gesellschaft an sich, sondern auch eine Spaltung in den staatlichen Institutionen. Lula da Silva kann nicht die Staatsinstitutionen geschlossen hinter sich wissen. Insbesondere der Kongress ist stark nach rechts gerückt, ist von Bolsonaro-Anhängern schwergewichtig kontrolliert. Und Lula da Silva ist darauf angewiesen, den Kongress hinter sich zu wissen, um seine Pläne durchzusetzen.
Rolle von Bolsonaro
tagesschau24: Was sagen Sie denn zu der Rolle von Bolsonaro bei diesen Ereignissen? Er selbst hat sich ja davon distanziert. Ist das glaubhaft?
Reder: Es ist sehr, sehr schwer zu sagen, welche Rolle explizit Bolsonaro hier spielt. Wir wissen, dass er die Wahlen nie anerkannt hat. Er hat bereits vor dem ersten Wahlgang Zweifel geschürt an dem Wahlprozess, an den Institutionen an sich.
Er hat immer wieder von manipulierten Wahlautomaten gesprochen, und er hat seine Niederlage nie wirklich anerkannt. Er war nicht anwesend zur Amtseinführung von Lula da Silva, von seinem Nachfolger, was eigentlich Tradition hat in Brasilien. Und er hat sich erst distanziert, als die Lage schon unter Kontrolle der Sicherheitskräfte war.
Reaktion von Lula "besorgniserregend"
tagesschau24: Und wie schätzen Sie andererseits das Verhalten von Präsident Lula ein? Hat er genug getan, um zu deeskalieren? Oder hat er vielleicht mit seinem Verhalten die Lage nur noch angeheizt?
Reder:: Lula da Silva ist sich sehr wohl bewusst, dass das Land gespalten ist. Er hatte zu seinem Amtsantritt versprochen, dass er das Land zusammenführen möchte, dass er Brücken bauen möchte.
Allerdings: Seine ersten Reaktionen, seine Rhetorik war nicht unbedingt besänftigend. Er hat von fanatischen Faschisten und Nazis gesprochen, was ich besorgniserregend finde, da es eben nicht deeskaliert.
Was Lula mittelfristig tun sollte
tagesschau24: Und was bedeutet das jetzt fürs Land? Wie sollte Lula jetzt damit umgehen? Was sagen Sie?
Reder: Erste Schritte hat Lula schon gemacht. Er hat den Sicherheitschef entlassen, hat die Sicherheitskräfte erst mal unter die Kontrolle der Regierung gestellt für die Hauptstadt Brasília. Er hat Untersuchungen angekündigt.
Aber sehr viel wichtiger ist, was er mittel- und langfristig macht, um die Gesellschaft wieder zu vereinen, um einen stärkeren Rückhalt in den Institutionen zu bekommen.
Und ich denke, hier ist es besonders wichtig, dass er transparent ist, dass er sehr klar zeigt, welche Pläne er hat und wie er sie befolgen und auch finanzieren möchte. Das hängt damit zusammen, dass es eine große Sorge innerhalb der Bevölkerung, bei seinen Gegnern gibt, dass er verantwortlich für viel Korruption ist.
Er hat sehr breite Sozialreformen angekündigt und Sozialprogramme. Und es ist nicht ganz klar bisher, wie diese finanziert werden sollen. Und hier besteht eben eine Sorge vor einem Linksruck, von einem zweiten Venezuela - wie Bolsonaro das im Wahlkampf immer wieder für den Fall, dass Lula da Silva die Wahl gewinnt, angekündigt hatte.
Das Gespräch führte Romy Hiller, tagesschau24