Recherche zu Butscha "Wer hat diese Menschen getötet?"
Im April 2022 wurden im Kiewer Vorort 460 tote Ukrainer entdeckt - offenbar ermordet von russischen Besatzern. Die "New York Times" will nach Monaten der Recherche ermittelt haben, welches Regiment dafür verantwortlich ist.
Das verwackelte Handy-Video eines Überlebenden nach dem Abzug der russischen Truppen aus Butscha: Vier, fünf, sechs Leichen zählt er, während er die Jablonska-Straße entlanggeht. "Das ist wirklich die Straße des Todes", sagt er. Mit dieser Szene beginnt der Film der "New York Times".
Es ist ein schockierender Halbstünder, in dem die Journalisten die Ergebnisse ihrer achtmonatigen Recherche in Butscha dokumentieren - wohltuend schlicht, ohne Reporter im Bild, die sich bei ihrer Arbeit filmen lassen, ohne pseudo-investigatives Nachgefrage, ohne nachgestellte Szenen am Telefon oder vor aufgeklappten Laptops. Die Geschichte steht im Mittelpunkt, nicht die Rechercheure.
"Improvisierte Leichenhallen"
Die Geschichte begann im April. Die Journalistin Yousur Al-Hlou war eigentlich auf dem Weg zurück in die USA. Seit Januar hatte sie mit zwei Kollegen für die "New York Times" aus Kiew berichtet. Dann kamen die Nachrichten aus Butscha: "Am nächsten Tag waren wir selbst in Butscha, und es war ziemlich schockierend dort", erzählt Al-Hlou.
Sie habe in der Vergangenheit schon von anderen Konflikten berichtet. "Aber ich habe noch nie so ein Ausmaß an Leichen gesehen - auf der Straße, in Autos, in improvisierten Leichenhallen, eine so große Zahl an Toten auf so engem Raum."
Russland stritt Verantwortung ab
Nach ukrainischen Angaben wurden nach dem Rückzug der russischen Truppen mehr als 460 Leichen in dem Kiewer Vorort gefunden. Die Gräueltaten an der Zivilbevölkerung sorgten weltweit für Entsetzen. Russland stritt eine Verantwortung für die Taten ab und behauptete, die Aufnahmen von den Toten seien fingiert gewesen.
"Noch am selben Abend haben wir mit unseren Redakteuren in New York gesprochen und zusammen entschieden: Wir brauchen mehr Zeit hier", sagt Al-Hlou. Das sei nicht nur eine Breaking-News-Geschichte gewesen. "Wir wollten herausfinden: Wer sind diese Menschen, deren Leichen hier wochenlang auf der Straße lagen? Was ist mit ihnen geschehen? Und wer hat sie getötet?"
Zeugenaussagen und Drohnenaufnahmen
Es war der Beginn einer achtmonatigen Recherche. Zusammen mit anderen Kollegen sprach die Videojournalistin mit Überlebenden und dokumentierte deren Aussagen. Redakteure in New York und Washington sichteten das Material von Überwachungskameras in Butscha sowie Drohnenaufnahmen der ukrainischen Armee und werteten Regierungsdokumente aus.
"So waren wir in der Lage, ein bestimmtes Regiment zu identifizieren", sagt Al-Hlou. Mehrfach habe ihr Team Videos davon, wie die Soldaten Morde begehen würden. "Wir können also sagen: Wir halten es nicht nur für wahrscheinlich, wir haben Beweise dafür, dass tatsächlich eine bestimmte Einheit - das 234. Luftlanderegiment - für diese Morde verantwortlich ist, die wir entlang der Jablonska-Straße untersucht haben."
Soldaten nutzten Handys der Opfer
Zwar hatten die Soldaten offenbar versucht, die entsprechenden Insignien auf ihren Fahrzeugen zu übermalen, immer wieder sind jedoch auf den Überwachungsvideos Teile davon zu erkennen. Außerdem hinterließen die Soldaten einige Unterlagen. Sie sprachen Vorgesetze über Funk mit Decknamen an, die auf die Einheit hinweisen - und darauf, dass die Verbrechen systematisch begangen und von Befehlshabern angeordnet wurden.
"Aber die Kronjuwelen, der einzigartige Teil unserer Arbeit, sind die Telefonprotokolle der Soldaten", sagt die Journalistin. Anhand derer konnte ihr Team nachweisen, dass Handys von sechs zivilen Opfern von russischen Soldaten benutzt wurden. "Wir haben diese Soldaten identifizieren können und dann im Internet Beweise gefunden, dass sie zu dieser Einheit gehören: Einträge bei sozialen Medien, Fotos von Abzeichen oder Flaggen."
Ihr Team habe mit Angehörigen gesprochen. "Wir können zwar nicht sagen, dass diese Soldaten die Morde begangen haben. Aber sie waren wenige Stunden, nachdem die Opfer getötet wurden, im Besitz von deren Telefonen und damit in der Nähe des Tatorts."
"Unwiderlegbare Beweise"
Gut möglich, dass diese Erkenntnisse einen wichtigen Beitrag zu den derzeit laufenden internationalen Ermittlungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine leisten können. Besonders, weil es den Journalisten erstmals gelungen ist, ein bestimmtes Regiment und einzelne Soldaten zu identifizieren. "Wir werden keine Anklage erheben oder die Beweise vor Gericht bringen. Wir sind Journalisten", stellt Al-Hlou klar.
Aber sie hoffe, dass jemand, der daran interessiert ist, ihr Material dazu verwendet. "Meine Familie ist syrisch-amerikanisch. Der Krieg in Syrien gilt als der erste, der in sozialen Medien dokumentiert ist. Wir können als Gesellschaft oder als Welt nicht länger sagen: Wir wussten nichts davon. Das gilt auch für den Krieg in der Ukraine." Es sei alles dokumentiert. "Wir haben mit unserer Geschichte unwiderlegbare Beweise veröffentlicht. Diese Informationen stehen jedem zur Verfügung, der sie für ein höheres Ziel verwenden möchte."