Interview zur US-Wahl "Es ist ein Spiel mit dem Feuer"
Die US-Wahl zeigt nach Ansicht des US-Experten Werz, dass sich viele US-Amerikaner an Trumps Angriffe auf das politische System des Landes gewöhnt haben. Die Attacken auf die Auszählung der Briefwahlstimmen seien ein "Spiel mit dem Feuer".
tagesschau.de: Herr Werz, wir sprechen zu einem Zeitpunkt, da der Wahlausgang noch unklar ist. Aber eines ist unverkennbar: Die Hoffnung der Demokraten auf einen deutlichen Umschwung hat sich nicht erfüllt.
Michael Werz: In der Tat ist der erwartete, relativ deutliche Wahlsieg von Joe Biden ausgeblieben. Man spürt hier ein Gefühl des Deja-vu, auch wenn man mit Mitarbeitern der Biden-Kampagne spricht. Es ist nach wie vor möglich, dass Biden noch Mehrheiten gewinnt. Allerdings wird sich das noch hinziehen, weil Stimmen, die per Brief eingegangen sind, erst am morgigen Tag ausgezählt werden.
Michael Werz ist Politikwissenschaftler am Center for American Progress in Washington D.C. und Mercator Senior Fellow 2020-2021.
tagesschau.de: Versuchen wir trotz dieser unklaren Lage, auf einige Gründe zu schauen. War das Thema Wirtschaft doch ausschlaggebend, so wie es jetzt aussieht?
Werz: Interessant ist, dass Biden wohl einen Teil der Wähler zurückgewinnen konnte, die im Mittleren Westen 2016 zu Trump übergelaufen sind, weil sie sich ökonomisch und sozial ausgeschlossen fühlten. Aber man muss auch einen Schritt zurücktreten und sehen, dass die überwiegende Mehrzahl der Unterstützerinnen und Unterstützer von Trump aus der gebildeten und prosperierenden Mittelschicht Amerikas kommt. Das sind keine Leute, die von der Hand in den Mund leben oder unmittelbare ökonomische Probleme haben.
Hier hat sich etwas entwickelt, das bedenkenswert und auch erschreckend ist: ein Gewöhnungsprozess an eine Art und Weise, mit politischen Institutionen umzugehen, die der amerikanischen Tradition eigentlich nicht entspricht.
Man kennt das aus der europäischen neueren Geschichte, dass Autoritarismus eine Ansteckungskrankheit ist. Viele Leute können sich dem offensichtlich nicht entziehen.
tagesschau.de: Auch die Corona-Pandemie scheint Trump nicht massiv geschadet zu haben.
Werz: Bei allen Meinungsumfragen und auch bei den sogenannten Exit Polls nach der Stimmabgabe wurde die Pandemie als eine ganz wichtige Erfahrung und auch als ein wahlmotivierender Faktor bezeichnet. Aber gleichzeitig hat es sich offenbar nicht in Stimmen gegen Trump niedergeschlagen, der weder Amerika vor dem Virus schützen konnte, noch sich selbst, und der auch die Angestellten des Weißen Hauses infiziert hat.
Hier muss man überlegen, was das bedeutet. Die Identifikation mit Trump hat offensichtlich weiter und tiefer gegriffen als die Erwägungen über die Gesundheit der Familie und der Kinder, das zukünftige ökonomische Wohlergehen des Landes und auch das Auskommen der verschiedenen Gesellschaftsgruppen miteinander.
"Das wäre ein Offenbarungseid"
tagesschau.de: Es gibt jetzt schon erste Klagen gegen den Auszählmodus. Ist es am Ende ein Vorteil für Trump, wenn der Streit vor Gericht landet?
Werz: An dieses Szenario mag man gar nicht denken. Wenn es wirklich zu einer legalen Auseinandersetzung kommt, müssten die Wahlergebnisse ganz knapp sein, was im Moment eher unwahrscheinlich, wenn auch nicht ausgeschlossen ist.
Aber das Szenario, dass sich Gerichtsverfahren hochschaukeln bis zum Obersten Gerichtshof, der dank Trump über eine konservative Mehrheit verfügt, die nicht mehr wirklich im Einklang mit der politischen Orientierung der Gesamtgesellschaft steht, wäre für eine 240 Jahre alte Demokratie ein Offenbarungseid.
tagesschau.de: Sie haben eingangs erwähnt, dass sich die Wahrnehmung von Institutionen und der Respekt vor ihnen ändert. Was muss geschehen, um das wieder zurückzuholen - und wäre das überhaupt in einer Amtsperiode eines Präsidenten zu leisten?
Werz: Dazu bedarf es natürlich einer neuen Person im Weißen Haus. Trump hat die Zerstörung demokratischer und Verfassungsinstitutionen mit einer Geschwindigkeit vorangetrieben, die atemberaubend gewesen ist und auch viele hier in den USA überrascht hat. So etwas kann man nur reparieren, wenn an der Spitze im Weißen Haus jemand steht, der Umgangsformen, der rechtliche Verpflichtungen und auch Verfassungstreue wieder zu den Leitlinien macht, an denen sich die Politik in diesem Land ausrichtet.
Der zweite, mindestens genauso wichtige Punkt ist, dass es eines Präsidenten bedarf, der alle Amerikanerinnen und Amerikaner repräsentiert und sich auch so versteht und nicht, wie der gegenwärtige Präsident, nur seine Unterstützerinnen und Unterstützer im Auge hat. Das ist für eine Gesellschaft von der kontinentalen Ausdehnung, der Größe und auch der Heterogenität der Vereinigten Staaten von zentraler Bedeutung.
"Republikaner haben kein Interesse an Reform des Systems"
tagesschau.de: Ist es nicht eine Lehre dieses Wahlkampfs, dass das politische System in den USA insgesamt reformbedürftig ist - und gibt es überhaupt Aussichten, dass man sich darauf verständigen kann?
Werz: Natürlich ist das politische System reformbedürftig - das wissen wir spätestens seit den Wahlen im Jahr 2000. Aber es ist fast unmöglich, die Verfassung zu verändern. Sie ist in einem säkularen politischen Gemeinwesen wie den Vereinigten Staaten einer der wenigen sakrosankten Texte, den man nur mit Zweidrittelmehrheit im Kongress und der Gouverneure das Landes verändern kann.
Es bedarf also eines breiten gesellschaftlichen und auch überparteilichen Konsenses, der nicht absehbar ist, weil sich die Republikanische Partei landesweit seit einigen Jahren in einer strukturellen Minderheitensituation befindet.
Es zeichnet sich ja ab, dass Biden landesweit die Stimmenmehrheit holt, so wie Hillary Clinton 2016. Die Republikaner haben natürlich kein Interesse daran, ein System zu verändern, das Regionen mit einer weniger dichten Bevölkerung politisch fördert. Es gibt nur eigentlich eine einzige Institutionen, die wirklich repräsentativ ist, nämlich das Abgeordnetenhaus, wo er die Wahlkreise alle zehn Jahre nach dem Zensus so zugeschnitten werden, das sie alle über die gleiche Bevölkerungszahl verfügen.
Aber im Senat vertritt eben ein Senator aus North Dakota einige 10.000 Personen und ein Senator oder eine Senatorin aus Kalifornien Millionen Leute. Das ist ein grobes Ungleichgewicht, und für das Wahlmännergremium gilt das ganz ähnlich. Wenn eine solche Reform für eine der beiden großen Parteien in einem Zweiparteiensystem zu einem politischen Überlebenskampf wird, wird sie wohl alle Blockademittel ausnutzen, um sie zu verhindern.
tagesschau.de: Biden sagte am Morgen, seine Partei sei auf dem Weg zum Sieg. Trump twittert, man versuche offenbar, die Wahl zu stehlen. Welchen Einfluss haben solche Äußerungen auf den Verlauf der kommenden Stunden?
Werz: Biden hat etwas gesagt, was im politischen Rahmen ist und Trump hat das gemacht, was er immer macht: Er hat Zwietracht gesät, die das Vertrauen in die politischen Prozesse unterminiert. Trump hat vor vier Jahren keine Probleme mit vielen Briefwahl-Teilnehmerinnen und Teilnehmern gehabt, die ihn gewählt haben. Dass ist dieses Mal für ihn zu einem Problem geworden, als klar wurde, dass Demokraten dort einen Organisationsvorsprung haben.
Trump hat in den vergangenen Wochen nicht nur zwischen den Zeilen und zum Teil auch explizit zur Gewalt gegen Andersdenkende, Journalisten und Minderheiten aufgerufen, sondern er hat auch auf diese Art und Weise das Vertrauen seiner Unterstützer in das politische System des Landes unterminiert.
Das hat verheerende Folgen und kann radikale Minderheiten dazu führen zu sagen: 'Wir sind nicht repräsentiert. Wir glauben an diese Verschwörungstheorie, dass wir hintergangen und die Wahlen gestohlen wurden und der einzige Ausweg, der uns bleibt, ist Gewalt.'
Es ist ein Spiel mit dem Feuer, und die gesamte Gesellschaft wird darunter leiden.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de