Bewaffnete Taliban feiern den Jahrestag des Sieges in Kabul (Afghanistan)
interview

Afghanistan "Die Taliban sind sehr zerstritten"

Stand: 15.08.2023 20:43 Uhr

Zwei Jahre nach dem Sieg der Taliban hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan zwar gebessert, aber für Hilfsorganisationen sei die Arbeit noch schwerer geworden, sagt Stefan Recker von Caritas International. Hinzu komme interner Streit bei den Taliban.

tageschau24: Bevor wir über die aktuelle Situation reden, vielleicht erst noch ein Rückblick. Wie haben Sie die Situation vor zwei Jahren erlebt, als westliches Militär und Organisationen das Land Hals über Kopf verlassen haben?

Stefan Recker: Ich habe mir damals am meisten Sorgen um die nationalen Kollegen und insbesondere um die Kolleginnen gemacht, die natürlich große Angst vor einer eventuellen Machtübernahme durch die Taliban hatten. Die meisten Kolleginnen und Kollegen sind dann aus Afghanistan raus und sind mithilfe von Caritas International nach Deutschland gegangen.

Stefan Recker
Zur Person
Stefan Recker leitet seit 2014 die Vertretung von Caritas international in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Der 57-Jährige kennt das Land wie nur wenige - insgesamt hat er seit 1995 mehr als 19 Jahre in dem Land gelebt und gearbeitet.

"Es gibt weniger Anschläge"

tageschau24: Sie selbst sind inzwischen auch zurück in Afghanistan. Hat sich die Sicherheitssituation verbessert?

Recker: Die Sicherheitssituation an sich hat sich verbessert. Es gibt einfach weniger Anschläge dadurch, dass die Gruppen, die damals Anschläge verursacht haben, jetzt an der Macht sind. Es gibt noch einige Anschläge durch den "Islamischen Staat", aber das ist unwesentlich. Es gibt ein paar Kriminalitätsprobleme, auch durch die Wirtschaftslage.

Stefan Recker, Caritas International, zu der Situation der Frauen in Afghanistan

tagesschau24, 15.08.2023 10:00 Uhr

"Unsere Arbeit ist nicht einfacher geworden"

tageschau24: Welche Möglichkeiten haben Sie jetzt, den Frauen und Mädchen in Afghanistan zu helfen?

Recker: Wir sind ja eine humanitäre Organisation. Wir führen durch unsere Partner Geldverteilung durch, aber auch medizinische Projekte, auch im Bereich psychosoziale Hilfen, Mutter-Kind-Gesundheit, Lepra und Tuberkulose. Da wird natürlich Frauen und Mädchen geholfen. Dadurch, dass die Taliban Ende letzten Jahres verboten haben, dass Frauen in Hilfsorganisationen arbeiten dürfen, ist unsere Arbeit nicht einfacher geworden.

tageschau24: Wie ist denn die Situation konkret für Hilfsorganisationen wie Ihre, gerade wenn man die prekären Umstände betrachtet?

Recker: Es war nie einfach, in diesem Land zu arbeiten. Keine der früheren Regierungen hat die Arbeit der Hilfsorganisationen unterstützt. Die Taliban stechen da noch mal heraus. Die Regeln und Gesetze, die sie erlassen, machen unsere Arbeit noch mal einen Tacken schwerer. Aber die Lage der Bevölkerung ist einfach so schlecht, dass wir trotz dieser Schwierigkeiten hier bleiben und weiter arbeiten werden.

"Noch zu früh für Entwicklungszusammenarbeit"

tageschau24: Mit Schwierigkeiten meinen Sie, Sie werden konkret behindert - oder wie muss man sich das vorstellen?

Recker: Wenn ich zum Beispiel eine andere Provinz besuchen möchte, was ich im Rahmen meiner Arbeit öfters tun muss, muss ich im Wirtschaftsministerium um eine Genehmigung bitten. Das dauert mindestens eine Woche. Wenn ich diese Genehmigung nicht habe, riskiere ich beziehungsweise riskieren die nationalen Kollegen, die mit mir mitreisen, Probleme zu bekommen.

tageschau24: Es gibt derzeit ausschließlich humanitäre Unterstützung aus Deutschland für Afghanistan. Sollte Deutschland mehr Unterstützung leisten und falls ja, in welchen Bereichen?

Recker: Humanitäre Unterstützung ist momentan das einzige Sinnvolle. Im Bereich Entwicklungszusammenarbeit weiterzugehen, dafür ist es momentan noch zu früh. Wir als humanitäre Hilfsorganisation sind auch nicht in der Lage, uns darüber Gedanken zu machen. Wir unterstützen die Menschen auf humanitärer Ebene. Es ist klar: Irgendwann muss es zur Entwicklungszusammenarbeit kommen. Aber ich denke, dazu ist es noch ein bisschen zu früh.

"Wir unterstützen die De-facto-Regierung nicht"

tageschau24: Es gibt die Diskussionen, ob man nicht auch mit humanitärer Hilfe das Taliban-Regime stärken würde. Ist da was dran?

Recker: Nein, aus unserer Sicht absolut nicht. Wir legen Wert darauf, dass wir die Zielgruppen-Auswahl allein mit unseren Partnern machen, dass da kein anderer und schon gar nicht irgendeine De-facto-Regierung mitmischt. Wir geben denjenigen, die es nicht verdienen, kein Geld. Wir unterstützen die De-facto-Regierung nicht und legen Wert darauf, dass es auch unsere Partner nicht tun.

"Wissen nicht, welche Fraktion sich durchsetzen wird"

tageschau24: Wir haben in einem Weltspiegel-Film über die Mädchenschule gesehen, dass die Taliban die Schule eigentlich schließen wollten, dann aber damit gescheitert sind, weil es eine Genehmigung für diese Schule gab. Deutet das auf eine gewisse Zerstrittenheit im Regime hin oder darauf, dass sich die Taliban eben nicht in allen Bereichen durchsetzen können?

Recker: Im Unterschied zu "Taliban 1.0" in den 1990er-Jahren sind die jetzigen "Taliban 2.0", wie ich sie nenne, sehr zerstritten. Es gibt verschiedene Fraktionen, die unterschiedliche Ansichten haben, unterschiedliche Machtansprüche und es ist klar, dass die Dekrete des Emirs nicht von allen gleich positiv gesehen werden.

Es gibt tatsächlich Taliban, die sagen: "Wir brauchen Bildung für Mädchen. Wir brauchen sogar Universitätsbildung für Mädchen." Aber die setzen sich momentan nicht durch. Und wir wissen nicht, wie es weitergehen und welche Fraktion sich letztendlich durchsetzen wird.

Das Gespräch führte Gerrit Derkowski, tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Version leicht angepasst.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 15. August 2023 um 10:00 Uhr.