Demonstranten protestieren in Peking am 27. November 2022 gegen die Covid-Politik.
Interview

Chinas Corona-Politik "Die Proteste haben etwas bewegt"

Stand: 07.12.2022 20:09 Uhr

Überraschend schnell hat Peking seine strikte Null-Covid-Politik gelockert. China-Expertin Godehardt erklärt, welche Rolle die Proteste dabei spielten - und was diese über die chinesische Gesellschaft verraten.

tagesschau.de: Wie gravierend sind die Änderungen in der Covid-Politik Chinas?

Nadine Godehardt: Die Veröffentlichung der zehn Maßnahmen beendet die Null-Covid-Politik in China. Alle größeren Einschränkungen werden aufgehoben: die Quarantänebestimmungen, das Testen, um nur zwei zu nennen. Die Frage wird sein, wie all das umgesetzt wird.

Nadine Godhardt
Zur Person
Nadine Godehardt ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Mitarbeiterin der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am German Institute of Global and Area Studies in Hamburg. Sie forscht unter anderem zu China, Geopolitik und politischen Ordnungen.

tagesschau.de: Vor welchen Schwierigkeiten steht die chinesische Führung bei der Umsetzung?

Godehardt: Es gab schon vor einigen Wochen Lockerungen in der Covid-Politik, die von der staatlichen Führung veröffentlicht, dann aber lokal unterschiedlich ausgelegt oder überhaupt nicht umgesetzt wurden. Die Herausforderung wird jetzt sein, das auf der lokalen Ebene durchzusetzen - nicht nur in den großen Städten wie Peking oder Shanghai, wo es viele internationale Journalisten und Unternehmen gibt, die darüber schnell berichten können.

"Strategie ist nicht klar"

tagesschau.de: Lassen die vorherigen Lockerungen den Schluss zu, dass es schon länger einen Versuch gibt, die Null-Covid-Politik aufzuweichen?

Godehardt: Die neuen Maßnahmen gehen viel weiter als die vorherigen. Diese waren ein eher weiches Hindeuten auf eine potenzielle Lockerung der Null-Covid-Politik, aber kein Abrücken von den strengen Regeln, wie zum Beispiel dem Testen im öffentlichen Leben.

Das Aufheben der strengen Politik ist keine Lösung für das Land. Es ist eine Reaktion, die man möglicherweise geplant hatte - aber eigentlich in kleineren, langsameren Schritten. Sie wirkt jetzt beinahe überhastet. Und auch, wenn alle von Öffnung sprechen: Wie die weitere Strategie aussehen wird, ist nicht klar.

Große Frustration in der Gesellschaft

tagesschau.de: Welche Rolle haben dabei die Proteste der vergangenen Wochen gespielt - die chinesische Führung begründet die jetzt angekündigten Schritte mit der Entwicklung der Pandemie im Land.

Godehardt: Ich glaube, dass die Proteste der vergangenen Wochen dazu beigetragen haben, dass man so schnell reagiert hat. Das offizielle Narrativ ist, dass jetzt von einer Grippe statt einer Pandemie gesprochen wird. Aber die Proteste haben gezeigt, wie groß die Frustration in der Gesellschaft ist - auch, wenn sie vielleicht nur einen kleinen Teil der Gesellschaft erfasst haben.

Aber sie fanden an strategisch wichtigen Orten in China statt und erhielten auch viel Beachtung aus dem Ausland. Die Frustration galt der Covid-Politik aber auch ihren Folgen: den wirtschaftlichen Einschränkungen und Wohlstandsverlusten, die viele Chinesen wegen dieser Politik hinnehmen mussten.

"Führung hofft, mit blauem Auge davonzukommen"

tagesschau.de: Was passiert, wenn die neuen Maßnahmen außerhalb der großen Städte nicht umgesetzt werden?

Godehardt: Die neuen Maßnahmen bedeuten zwar einerseits, dass einige Regeln aufgehoben werden, sie bedeuten aber auch, dass die chinesische Bevölkerung im Umgang mit der Pandemie sich selbst überlassen wird. Denn die Maßnahmen sind mitnichten bis ins letzte Detail durchdacht.

Das sind sehr kurz formulierte Vorgaben, die viele Fälle gar nicht berücksichtigen. Was ist mit Schulen? Was gilt dort als epidemischer Status, was nicht? Es steht zu befürchten, dass man die Umsetzung der neuen Regeln wieder den Menschen selbst überlässt und damit auf harte Zeiten zusteuert.

Die Bevölkerung ist nach wie vor nicht ausreichend geimpft. Es dürfte einen massiven Anstieg der Infektionszahlen geben. Insofern ist das ein riesiges Sozialexperiment, bei dem die Führung hofft, irgendwie mit einem blauen Auge davonzukommen. Denn die Öffnung ergibt nur einen Sinn, wenn man eine große Impfkampagne startet. Das ist aber nicht zu erwarten.

"Diese Proteste waren etwas Besonderes"

tagesschau.de: Könnte die Bevölkerung angesichts der Reaktion der politischen Führung auf die Proteste den Schluss ziehen, es lohne sich, etwas zu riskieren und zu protestieren?

Godehardt: Diese Proteste waren etwas Besonderes. Niemand konnte sich vorstellen, dass so etwas in China passiert - vor allem nicht in einem China unter Parteichef Xi, das mitunter totalitäre Züge aufweist. Die Art der Proteste war anders als die vielen lokalen Proteste, die man sonst in China immer wieder beobachten kann. Es ist ja nicht so, dass in dem Land generell nicht protestiert würde.

Aber diese flächendeckenden Proteste - ob sie als solche geplant waren oder nicht - ihr Bezug aufeinander und das Überlisten des digitalen Überwachungsstaats für einen relativ langen Zeitraum waren außergewöhnlich und haben etwas bewegt. Das hat auch die Regierung bewegt, schnell zu reagieren und Maßnahmen zu ergreifen.

Ob das jetzt bedeutet, dass die Menschen immer auf die Straße gehen, wenn ihnen irgendetwas nicht passt, wage ich erst mal zu bezweifeln. Die chinesische Gesellschaft wird jetzt damit beschäftigt sein, sich auf andere Art und Weise mit dem Virus auseinanderzusetzen. Nicht mehr im Lockdown, sondern mit hohen Infektionszahlen. Der Winter ist gerade am Anfang, und es wird neben der Pandemie sicher auch eine Grippewelle geben.

Und die zweite Frage ist, ob die Führung einlenkt und zum Beispiel einen westlichen Impfstoff einkauft. Das ist aber völlig unklar. Nur: Ohne einen mRNA-Wirkstoff wird es nicht gehen. Deswegen wird man mit der Öffnung weiterhin vermutlich sehr vorsichtig sein und es dürfte auch weiterhin viele Lockdowns geben.

"Die Gesellschaft setzt sich mit ihrem System auseinander"

tagesschau.de: Haben wir an der Stelle die chinesische Führung und die chinesische Gesellschaft falsch eingeschätzt?

Godehardt: Die Proteste haben vor allem gezeigt, dass es eine chinesische Gesellschaft gibt, die sich mit ihrem System auseinandersetzt. Die Diskussionen, die wir in Deutschland und Europa führen, beschäftigen sich sehr mit dem globalen China und den geopolitischen Herausforderungen durch den chinesischen Kurs. Dabei wird schnell vergessen, dass es die Chinesinnen und Chinesen sind, die vor allem von dem Regime betroffen sind.

Die Proteste haben auch deutlich gemacht, dass es in China eine Gesellschaft gibt, die sich auf ihre Art, so wie es eben möglich ist, innerhalb des Systems äußert. Es gab zwar Rufe nach mehr Freiheit oder nach dem Rücktritt von Xi. Aber das war eher ein Ausdruck der Frustration über die massiven Einschränkungen ihres gewohnten Lebens im Alltag. Und auch das hat zu diesen Protesten geführt.

Aber ich glaube nicht, dass es um einen Regimewechsel geht oder um die Möglichkeit, dass die Gesellschaft sich gegen die Partei stellt. Das sehe ich noch nicht. Dafür müsste es innerhalb der Partei neue Opposition geben, und die gibt es nach dem kürzlich beendeten 20. Parteitag nicht.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de