KI im Krieg im Gazastreifen Viel mehr Ziele - und viel mehr Opfer?
Künstliche Intelligenz verändert auch im Gazastreifen die Kriegsführung. Mit ihrer Hilfe können die israelischen Streitkräfte Angriffsziele wesentlich schneller festlegen. Aber was sind die Folgen?
Jeden Tag greifen die israelischen Streitkräfte Ziele im Gazastreifen an. Erklärtes Ziel ist die Zerschlagung der Terrororganisation Hamas.
Das Ergebnis ist: flächendeckende Zerstörung. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden über 60 Prozent der Wohneinheiten im Gazastreifen bereits zerstört oder schwer beschädigt. Demnach wurden fast 19.000 Menschen getötet, 70 Prozent von ihnen sind Frauen und Minderjährige.
Die Zahlen stammen vom von der Hamas geführten Gesundheitsministerium und werden von den Regierungen vieler Länder für plausibel gehalten. Tausende Menschen werden noch unter den Trümmern eingestürzter Gebäude vermisst.
"Wahllos" - oder mit großer Präzision?
US-Präsident Joe Biden hat Israel "wahllose Bombardierungen" vorgeworfen. Doch Recherchen darüber, wie der Krieg im Gazastreifen geführt wird, kommen zu einem anderen Ergebnis. Und auch Israels Streitkräfte sprechen von Angriffen, die mit großer Präzision ausgeführt würden.
Mehr als 22.000 Ziele hat Israels Armee eigenen Angaben zufolge bereits angegriffen. Möglich werde das durch den Einsatz modernster Technik und künstlicher Intelligenz, also KI, sagt Liran Antebi vom Institute for National Secuity Studies, die bereits vor dem Gaza-Krieg zu dem Thema geforscht hat.
Es gibt eine relativ hohe Autonomie, das heißt, dass die Geräte die Umgebung analysieren und sehr schnelle Berechnungen vornehmen. Und das System der künstlichen Intelligenz kann dafür besser sorgen als der Mensch, weil es alles viel schneller berechnen kann und die Entscheidung viel schneller in die Umsetzung schicken kann.
Ziele werden schneller definiert
Der Schlüssel zu dieser Kriegsführung liegt in der schnellen Festlegung von Angriffszielen auf Basis großer Datenmengen. Schon seit 2019 haben Israels Streitkräfte ein "Target Center", in dem nach Angaben des früheren Generalstabschefs Aviv Kochavi Hunderte Soldaten arbeiten. Und schon 2021 setzte Israel bei der damaligen Eskalation im Gazastreifen Systeme zur Zielfestlegung ein, die auf KI basierten: "Die israelische Armee veröffentlichte, dass in dieser Operation drei KI-Systeme eingesetzt wurden", sagt er.
Dadurch habe sie 200 Ziele auf qualitativ hoher Ebene aus unterschiedlichen Informationsquellen innerhalb von zwölf Tagen erstellen können. Davor habe die Armee 360 Tage, also ein Jahr gebraucht, um diese Menge an Zielen herzustellen. Eines dieser Systeme hat den Namen "Habsora" ("The Gospel").
Immer weniger Zeit zur Überprüfung
Auch Yuval Abraham hat zu dem Thema recherchiert und die Ergebnisse im englischsprachigen "+972 Magazine" veröffentlicht. Er hat mit Menschen aus dem israelischen Sicherheitsapparat gesprochen, die Bedenken haben: "Quellen mit denen ich gesprochen habe, haben ernsthafte Fragen gestellt, was die militärische Qualität einiger dieser Ziele angeht. Wenn man Hunderte oder gar Tausende Ziele jeden Tag festlegt, dann sagen die Quellen, dass die Möglichkeiten für Menschen, das zu überwachen, sicherzustellen, dass die Information solide ist, drastisch verringert ist."
Demnach sei die Versuchung groß, Zielempfehlungen aufgrund rasch aufbereiteter Datenmengen auch wegen der großen Zahl, in der sie hergestellt werden, ohne größere Überprüfung zu übernehmen.
Mehr gezielte Tötungen?
Die Folge der neuen Technologie ist seiner Meinung nach eine andere Kriegsführung - auch wenn es jetzt im Gazastreifen darum gehe, Mitglieder der Hamas zu töten:
Wenn man künstliche Intelligenz benutzt, wenn man fast unendliche Datenmengen verarbeiten kann, was früher durch Menschen nicht möglich war, dann kann man gezielte Tötungen nicht nur gegen wichtige Hamas-Führer einsetzen, sondern auch gegen tausende weitere, die zum militärischen Flügel der Hamas gehören, die aber als nicht besonders wichtig gelten.
30.000 bis 40.000 Hamas-Kämpfer soll es im Gazastreifen geben. Israelische Vertreter hatten nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober zumindest angekündigt, die schätzungsweise 3.000 Terroristen, die sich an dem Terrorangriff beteiligt haben, zu töten.
Möglicherweise ist die Tötung aller Hamas-Kämpfer im Gazastreifen nicht das Ziel der israelischen Kriegsführung, darauf deuten Aufnahmen hin, die dutzende Festgenommene zeigen.
Ziele in diesem Krieg sind aber nicht nur Personen, sondern auch öffentliche Gebäude, Infrastruktur und höhere Bauwerke. Durch die Zerstörung dieser, wie es in Israel heißt, "Power-Ziele" soll die Zivilbevölkerung gebrochen werden.
Und die Zivilbevölkerung?
Yuval Abraham sagt, dass bei dieser Zerstörung und bei gezielten Tötungen in diesem Krieg mitunter der Tod von dutzenden, manchmal hunderten zivilen Opfern in Kauf genommen werde. Durch automatisierte und deutlich schnellere Zielempfehlungen werde diese Art der Kriegsführung mit vielen Zielen in kurzer Zeit erst möglich.
Israels Armee betont, man unternehme viel, um die Zivilbevölkerung zu schützen und verweist darauf, dass die Hamas die Bevölkerung im Gazastreifen als menschliche Schutzschilde einsetzt. Zahlreiche Länder, Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen fordern aber, dass deutlich mehr zum Schutz der Zivilbevölkerung getan werden müsse.
Für Israel sind durch den Einsatz modernster Technologie in diesem Krieg deutlich mehr Angriffe auf Ziele möglich als in früheren Zeiten. Sie führen offensichtlich aber auch zu mehr zivilen Opfern und zu mehr Zerstörung - und damit zu mehr Leid im Gazastreifen.