Lage in Damaskus "Syrien ist jetzt eine Katze ohne Klauen"
Der Diktator ist weg - doch was kommt nun? Nach dem Sturz Assads hat sich ein ARD-Team mit dem Auto bis in die syrische Hauptstadt durchgeschlagen - und berichtet von Freude, Angst und großer Unsicherheit.
Es ist noch ganz früh am Morgen, als wir uns in der libanesischen Hauptstadt Beirut auf den Weg machen. Zwei Autos, vollgetankt und beladen. Das Ziel: Damaskus - die syrische Hauptstadt jenseits der Berge, nur gut 100 Kilometer entfernt und doch unendlich weit weg. Wer nach Syrien will, muss erst mal über die Grenze. Die Stimmung ist angespannt - wir wissen nicht, was uns dort erwartet.
In steilen Kurven windet sich die Straße die Berge hinauf, Damaskus steht auf dem Straßenschild. Der Blick von der Anhöhe hinunter ins Tal raubt für einen Moment den Atem. Blauer Morgendunst liegt über der Bekaa-Ebene, verschleiert den Blick auf die ärmlichen Hütten der Gegend, in denen so viele syrische Flüchtlinge seit Jahren hausen, geflohen vor dem Assad-Regime und dem syrischen Bürgerkrieg.
Werden Journalisten reingelassen?
All das ist jetzt Geschichte. Aber schreibt die neue Geschichte etwas Besseres? Wer sind die islamistischen Aufständischen, die jetzt in Syrien das Sagen haben? Wie behandeln sie Journalisten an der Grenze? Werden wir überhaupt reingelassen? Wir wissen es nicht.
Boxenstopp an einem Rastplatz, hier kann man Geld tauschen. Für 100 Dollar schiebt uns der Kassierer einen hohen Stapel syrisches Geld hin. Das Konterfei von Präsident Baschar al-Assad lächelt auf der Banknote. Vermutlich nicht mehr lange.
Vor dem Restaurant steigt Mohammed wieder in sein Auto. Der Syrer kommt gerade aus Damaskus. Aber dort bombardierten pausenlos die Israelis, berichtet er: "Die Geräusche der israelischen Bombardierungen haben nicht aufgehört. Die Angriffe erschüttern alles, und jeder der Angriffe war lauter und heftiger als der vorherige."
Schusssichere Westen und Helme
Vor der Grenze kontrollieren wir unsere schusssicheren Westen mit der großen Aufschrift Presse und die Helme - sicher ist sicher. Es ist viel los am Grenzübergang, vollgepackte Autos mit Syrerinnen und Syrern, viele Journalisten. Wir müssen raus aus den Autos, zu den libanesischen Behörden, der Pass wird gestempelt.
Wir müssen die Autos tauschen - libanesische Kennzeichen sieht man in Syrien nicht gerne. Alles umladen, die Fahrer betanken die Autos neu, indem sie einen Gartenschlauch in einen mit Benzin gefüllten Wasserkanister tauchen. Tanken auf syrisch - normale Tankstellen gibt es kaum in dem bitterarmen Land. Wir haben uns daran gewöhnt, meint der Fahrer achselzuckend.
Gefühlt lange Minuten fahren wir durchs Niemandsland, steinige Anhöhen links und rechts, niedrige Büsche. Dann der syrische Grenzübergang - oder das, was davon noch übrig ist. Als wir das letzte Mal vor Jahren hier waren, wurden wir von grimmigen uniformierten Beamten lange befragt und hatten weiche Knie.
Fröhlich winkende Milizionäre
Danach sind wir lange nicht mehr reingekommen. So muss man sich die DDR vorstellen, sagte damals eine Kollegin. Heute am Kontrollposten: Milizionäre mit Kalaschnikows und Munitionsgürteln, fröhlich winkend und mit breitem Grinsen auf dem Gesicht. "Ahlan wa sahlan" - herzlich willkommen in Syrien. Wir werden einfach durchgewinkt.
"Wir haben niemanden verletzt, getötet oder geschlagen", beteuert Kämpfer Ibrahim. Die Assad-Soldaten hätten einfach ihre Waffen niedergelegt und seien geflohen. Man hätte ihnen Sicherheit garantiert und gesagt, dass man ihnen nichts tun werde.
Geländewagen mit Einschusslöchern
Am Grenzposten liegt ein teurer Geländewagen auf der Seite, die Windschutzscheibe ist von Einschusslöchern durchsiebt. Ganz so friedlich ist es hier offenbar nicht immer. In der Ferne hören wir Salven von Maschinengewehr.
Kurz hinter uns passiert Abu Abou die Grenze - das Auto vollgestopft mit seinen vier kleinen Kindern, seiner Frau und Unmengen an Gepäck. 15 Jahre lang war der Syrer nicht in seiner Heimat, er kann sein Glück kaum fassen: "Ich bin so glücklich, ich war so lange nicht Zuhause. Alle meine vier Kinder sind im Libanon geboren. Das Gefühl, über die Grenze zu fahren, ist unbeschreiblich."
Belebte Straßen in Damaskus
Und dann sind wir endlich in Damaskus. Von Ausnahmezustand ist nur wenige Tage nach dem Sturz des Diktators auf den ersten Blick nicht viel zu spüren, die Straßen sind belebt, die Menschen gehen einkaufen.
Beim Aussteigen knirschen leere Patronenhülsen unter den Füßen - und in der Innenstadt wird gefeiert und aufgeräumt. Mariam schiebt einen Haufen Patronenhülsen, Reste von zerrissenen Assad-Bildern und alten Fahnen mit dem Besen zusammen.
Gemeinsam mit einigen anderen Frauen hat sie spontan einen Aufräumtrupp in der Innenstadt gebildet. "Wir machen sauber, wir werden noch verrückt vor Freude, wir wollen allen zeigen, dass wir zusammenarbeiten, Hand in Hand, wir sind doch alle Syrer, ein Volk", sagt sie. Mariam hofft nun, dass die wichtigen Akteure im zersplitterten Land das auch so sehen - und an einen Tisch kommen.
Menschen feiern und tanzen
Nebenan wird gefeiert. Auf dem riesigen Kreisverkehr, dem zentralen Platz in der Innenstadt, steht ein verlassener russischer Panzer und dient als Hüpfburg und Tanzfläche - Dutzende Jugendliche und Kinder haben ihn erklommen, posieren für Fotos, jubeln.
Die Vorbeifahrenden hupen. Leute winken aus den Autofenstern, rufen "herzlich willkommen". Es ist, als wäre für einen Augenblick eine graue Decke von diesem Land genommen: "Die Angst, die in uns war, ist verschwunden", sagt ein Gemüsehändler. "Ich hatte immer Angst, zum Militärdienst eingezogen zu werden, bin deshalb nicht mehr ausgegangen. Jetzt geht es uns besser."
Aber ist die Angst wirklich verschwunden? Oder sind nur die, vor denen man Angst haben muss, andere geworden? Zwischen den Feiernden überall Kämpfer mit langen Bärten und Sturmgewehren, eindeutig Islamisten. Die neuen Herrscher Syriens wirken spontan nicht wie Sympathieträger.
PR-Beauftragter der Milizen
Das zu ändern, ist wohl Ahmeds Aufgabe. Er spricht uns an - freundlich, gut gekleidet, perfektes Englisch. Er komme aus Großbritannien, erzählt er. Habe sich vor elf Jahren dem "Widerstand" in Idlib, Nordwestsyrien, angeschlossen.
Einer der zahlreichen ausländischen Kämpfer, die für die ehemaligen Ableger von Al-Kaida und anderen dschihadistischen Gruppierungen aus der ganzen Welt nach Syrien gereist sind. Jetzt sind sie in Damaskus und machen PR für die vermeintlich gute Sache - man baue mit allen zusammen ein neues Syrien friedlich auf.
"Das ist nicht mein Syrien"
Alaa glaubt all diesen friedlichen Versprechungen nicht. Empört deutet er auf einen Tross bärtiger Kämpfer, der gerade mit breiter Brust und festem Schritt vorbeizieht. "Das ist nicht mein Syrien", sagt er. Diese Kämpfer seien Terroristen. Als Chemiker war er zuständig für Assads nukleare Forschungslabore, erzählt er. Und hat jetzt Angst um sein Leben.
So mancher, mit dem wir sprechen wollen, traut sich nicht, etwas zu sagen. Mehr als 50 Jahre Diktatur und Spitzelstaat haben in Syrien tiefe Spuren hinterlassen. Und Assads Anhänger sind immer noch da. Syrien sei jetzt eine Katze ohne Klauen, sagt ein Mann leise. Und schaut dabei auf ein zerrissenes Assad-Portrait auf dem Boden.
Freiheit macht auch Angst
Was sollen wir machen, fragt auch Eliah, ein Christ, der traurig ist, dass dieses Jahr die Weihnachtsgottesdienste wahrscheinlich ausfallen. Er hofft, dass die neue Freiheit für Syrien etwas Gutes wird. "Freiheit bedeutet, dass wir auf einmal sprechen dürfen, unsere Gefühle und Meinungen ausdrücken können. Jeder darf das. Und das macht Angst."
In der Nacht hallen wieder Schüsse durch Damaskus.