Fragen und Antworten zum "Vertrag von Lissabon" "Superstaat" oder mehr Demokratie für alle?
Mit dem EU-Reformvertrag, dem sogenannten "Vertrag von Lissabon" soll die Europäische Union auf eine neue Grundlage gestellt werden. Was bringt der Vertrag? Wird Deutschland an Einfluss verlieren, falls er in Kraft tritt? Und was passiert, wenn nicht alle EU-Staaten zustimmen? tagesschau.de hat Fragen und Antworten zusammengestellt.
Was ist der EU-Reformvertrag?
Der Vertrag, der die Europäische Union auf eine neue Grundlage stellen soll, wurde 2007 von den 27 Staats- und Regierungschefs der EU in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon unterzeichnet. Nachdem alle 27 Mitgliedsstaaten dem Vertragswerk zusgestimmt haben, tritt eram 1. Dezember 2009 in Kraft. Das neue Grundlagendokument, das als "Vertrag von Lissabon" in die Geschichtsbücher eingehen wird, ersetzt die gescheiterte EU-Verfassung, die im Frühjahr 2005 in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden durchgefallen war.
Braucht die EU den Vertrag überhaupt?
Ja, denn mit der Osterweiterung der Europäischen Union auf zunächst 24 und derzeit 27 Länder wird es immer schwieriger, mit den alten Instrumenten Entscheidungen zu treffen. Derzeit gilt nämlich in zentralen Politikbereichen der Union noch das Veto-Recht. Das heißt, ein Land kann eine Entscheidung mit seinem "Nein" blockieren, auch wenn alle anderen dafür sind. Je größer die Union wird, desto unsinniger ist ein solches Verfahren. Seit Jahren warnen Politiker und Wissenschaftler davor, dass die Union durch Selbstblockade handlungsunfähig werden könnte. Aus diesem Grund ist die Reform der Entscheidungsprozesse ein zentraler Punkt des Vertrages.
Wie sehen die neuen Entscheidungsregeln aus?
Künftig soll es nur noch in Ausnahmefällen Veto-Entscheidungen geben, die Regel sollen Mehrheitsentscheidungen werden. Um der Forderung Rechnung zu tragen, dass zum Beispiel große Länder wie Deutschland oder Frankreich gegenüber Kleinststaaten wie Malta nicht benachteiligt werden, wurde das Prinzip der doppelten Mehrheit eingeführt. Die ist dann erreicht, wenn mindestens 55 Prozent der Mitgliedsstaaten zustimmen, die insgesamt 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Die neuen Abstimmungsregeln sollen - unter anderem wegen des Widerstands aud Polen, das einen Verlust an Einfluss fürchtet, erst 2014 in Kraft treten.
Wird die EU durch den Reformvertrag mächtiger?
Sie soll vor allem effizienter werden - und das nicht nur durch geänderte Entscheidungsverfahren. Künftig soll der EU-Ratspräsident nicht wie bisher nur ein halbes Jahr amtieren, sondern vom Rat der Staats- und Regierungschefs auf zweieinhalb Jahre gewählt werden. Das soll Kontinuität gewährleisten. Die Position des Ratspräsidenten wird durch die längere Amtszeit außerdem an Gewicht gewinnen. Damit die Gemeinschaft in Zukunft ein einheitlicheres Bild in der Welt abgibt, wird es eine Art Außenminister geben, den "Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik". Er soll einen diplomatischen Dienst bekommen und Vizepräsident der EU-Kommission werden.
Wird die EU durch den Reformvertrag demokratischer?
Bedingt, die Macht des EU-Parlaments soll zwar gestärkt werden: Künftig muss es fast allen Entscheidungen der Union zustimmen. So soll es gleichberechtigt mit dem Rat der EU-Wirtschaftsminister über den Haushalt entscheiden. Dennoch bleibt ein erhebliches Demokratiedefizit. Denn bei allen Entscheidungen, die die Außen- und Sicherheitspolitik der Union angehen, wird das Parlament nach wie vor nicht gefragt. Und im Gegensatz zum Bundestag hat das Europäische Parlament nicht das Recht, Gesetze vorzulegen. Der Vertrag von Lissabon schreibt aber vor, dass das Parlament den Präsidenten der EU-Kommission wählen darf. Bislang wird dieser von den Staats- und Regierungschefs ernannt. Das EU-Parlament hat aber heute schon das Recht, der Kommission und ihrem Präsidenten das Misstrauen auszusprechen und sie so zum Rücktritt zu zwingen.
Kann ein Staat aus der EU austreten?
Ja, erstmals sieht ein Vertrag auf EU-Ebene auch die Möglichkeit eines Austritts vor.
Wird Deutschland an Einfluss in der EU verlieren, wenn der neue Vertrag in Kraft tritt?
Nein, denn das oben beschriebene Prinzip der doppelten Mehrheit gewährleistet, dass auch bevölkerungsreiche Länder wie Deutschland angemessen berücksichtigt werden. Außerdem wird in einem Begleitgesetz zum EU-Reformvertrag geregelt, dass die Fraktionen des Bundestags gegen die EU-Kommission klagen können, wenn diese ihre Kompetenzen überschreiten sollte.
Was wurde in den langen Verhandlungen am Ursprungstext geändert?
Die Verhandlungen waren zwar lang und quälend, aber die Änderungen, die gemacht werden mussten, um alle Staaten zur Zustimmung zu bewegen, sind überschaubar. Einige Staaten erreichten während des Verhandlungsprozesses Zugeständnisse, so zum Beispiel Irland und Tschechien. Eine der wichtigsten Veränderungen gegenüber der Ursprungsfassung ist die Tatsache, dass nun doch jedes Land weiterhin einen EU-Kommissar stellt. Ursprünglich sollten nur zwei Drittel der Staaten einen Kommissar schicken. Das Recht sollte zwischen den Mitgliedsstaaten rotieren. Um die Einwilligung der Iren in der zweiten Volksabstimmung zu erhalten, wurde diese Neuregelung aber zurück genommen.
Tschechien erreichte bei der EU-Grundrechtecharta, die dem Vertrag von Lissabon anhängt, das Zugeständnis, dass die so genannten Benes-Dekrete unangetastet bleiben. Auf Grundlage der Dekrete waren nach dem Zweiten Weltkrieg rund 2,5 Millionen Sudeten- und Karpatendeutsche enteignet und ohne Entschädigung aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben worden. Tschechien fürchtete eventuellen Rückgabeforderungen.
Zusammengestellt von Sabine Klein, tagesschau.de