Demonstranten auf einer Straße vor dem Parlamentsgebäude legten Feuer.

Pro-europäischer Protest in Georgien "Dem eigenen Volk den Krieg erklärt"

Stand: 29.11.2024 10:22 Uhr

Die Absage der georgischen Regierung an EU-Beitrittsgespräche treibt viele Menschen auf die Straße. Die pro-europäische Präsidentin spricht von "Putsch" und einer "Kriegserklärung" an das eigene Volk.

Von Björn Blaschke, ARD Moskau, zurzeit Tiflis

Am Abend sind in Georgiens Hauptstadt Tiflis Tausende Menschen gegen eine Ankündigung von Regierungschef Irakli Kobachidse auf die Straße gegangen. Er hatte erklärt, den geplanten EU-Beitritt des Landes zu verzögern. Die Demonstrierenden versammelten sich unter anderem vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis und blockierten damit die wichtigste Straße der Stadt.

Die georgischen Sondereinsatzkräfte setzten Pfefferspray, Gummigeschosse und Wasserwerfer ein. Bis in die frühen Morgenstunden dauerte der Einsatz. Polizisten - ausgerüstet mit Sturmmasken, Schilden und Gummiknüppeln - zogen aus der Menge Demonstrierende und transportierten sie in Fahrzeugen ab.

Es ist die unverhältnismäßig wirkende Antwort des georgischen Innenministeriums auf eine spontane Kundgebung, die überwiegend friedlich blieb - wenngleich vereinzelte Plastikwasserflaschen flogen und schließlich auch Barrikaden brannten.

"Krieg gegen unsere Zukunft"

Zu der Demonstration vor dem Parlament Georgiens strömten am Abend Tausende Menschen zusammen. Einige kamen vom Sitz der Präsidentin. Salome Surabischwili war dort vor die Kameras getreten.

"Heute hat diese nicht existierende und illegitime Regierung ihrem eigenen Volk, ihrer eigenen Vergangenheit und ihrer eigenen Zukunft nicht den Frieden, sondern den Krieg erklärt", sagte die pro-europäische Präsidentin. Dieser Krieg richte sich "gegen unsere Zukunft, die Zukunft unserer Gesellschaft und die Zukunft unseres Landes". Sie sehe in diesem Weg weder georgische Staatlichkeit noch Unabhängigkeit - und "keine Zukunft außer in Russland", so Surabischwili.

Vorwürfe über Wahlbetrug

Die Vorgeschichte in wenigen Worten: Vor etwa einem Jahr erhielt Georgien offiziell den Status eines möglichen EU-Beitrittskandidaten. Anschließend führte die Regierungspartei Georgischer Traum einige Gesetze ein, die nach russischem Vorbild geschrieben zu sein scheinen. Und schließlich gab es vor einem Monat eine Parlamentswahl.

Aus der Wahl ging der bis dahin herrschende Georgischer Traum erneut als Sieger hervor. So das offizielle Ergebnis. Die Opposition und auch internationale Wahlbeobachtungsteams werfen der Regierungspartei jedoch Wahlbetrug vor.

Keine Opposition im Parlament anwesend

Die gewählten oppositionellen Abgeordneten weigern sich, ihre Parlamentssitze einzunehmen. Aus Protest kamen sie denn auch gestern nicht zu der Plenarsitzung, in deren Verlauf allein die Abgeordneten des Georgischen Traums Irakli Kobachidse als Regierungschef bestätigten.

Für Präsidentin Surabischwili ein Putsch: "Der heutige Tag markiert einen wichtigen Punkt, oder besser gesagt, den Abschluss des Verfassungsputsches, der sich seit mehreren Wochen oder vielleicht Monaten abspielte." Der pro-russische Kurs sei schon vor Monaten eingeschlagen worden. "Diejenigen, die noch Zweifel hatten und dachten, es könnte eine andere Erklärung geben, wurden heute enttäuscht."

Aussetzen der EU-Verhandlungen bis 2028

Nachdem seine Partei Kobachidse gestern im Amt bestätigt hatte, stellte er sein Programm vor. Er verkündete, seine Regierung werde den Prozess zur Aufnahme von Verhandlungen mit der EU bis Ende 2028 aussetzen.

Zur Begründung für den Schritt sagte der Regierungschef, dass die Diskussion um die Aufnahmeverhandlungen zu einem Instrument des Drucks geworden sei und zu einer Spaltung der Gesellschaft geführt habe. 

Interessant daran ist, dass die EU selbst zuvor eine mögliche EU-Mitgliedschaft Georgiens auf Eis gelegt hatte. Aufgrund eben jener Russland-freundlichen Gesetze, und auch aufgrund der zweifelhaften Parlamentswahl vergangenen Monat. Aus Sicht der Opposition hat Kobachidse gestern einen Bruch mit der EU herbeigeführt - deshalb der Protest.