Ein Junge spielt auf einer Straße in Glasgow Fußball.

Kinder in Großbritannien Krank, weil wohnungslos

Stand: 24.01.2025 16:16 Uhr

London gilt als eine der reichsten Städte der Welt. Trotzdem hat die Wohnungslosigkeit Rekorde erreicht. Am schlimmsten trifft es Kinder. In den Notunterkünften bekommen sie Krankheiten, die eigentlich der Vergangenheit angehören.

Das Epizentrum dieser unsichtbaren Epidemie versteckt sich hinter den Hausfassaden der britischen Metropole: in Hostels, Hotels und Pensionen. Hier bringt die Stadt rund 183.000 obdachlose Menschen unter, darunter mehr als 2.000 Familien. Sie müssen dort immer länger bleiben. Und es werden immer mehr.

Sam Ashton von London Councils, dem Zusammenschluss der Londoner Bezirke, sagt: "Obdachlosigkeit hat in ganz Großbritannien ein historisches Ausmaß erreicht. Aber besonders akut ist die Krise in London."

Einer von 50 Londonern hat nach offiziellen Schätzungen keine eigene Unterkunft. Eins von 21 Kindern lebt in Notunterkünften, quasi eines pro Klassenzimmer. Ashton sagt auch: "Es ist eine Krise auf allen Ebenen".

Mieten steigen unreguliert

Lange sei zu wenig bezahlbarer Wohnraum neu gebaut worden. Gleichzeitig würden die Mieten auf dem kaum regulierten freien Markt immer weiter steigen. Dazu sei die Corona-Pandemie gekommen und nun die Krise mit steigenden Lebenshaltungskosten. Immer mehr Familien könnten ihre Miete schlicht nicht mehr zahlen.

Und während die Bezirke zwar verpflichtet sind, obdachlos gewordene Familien unterzubringen, können auch sie es sich immer weniger leisten, neue Wohnungen anzumieten. Die eigentlich als Übergangslösung gedachten Hotels, Hostels und Bed und Breakfasts werden so für viele Familien zur Dauerunterkunft.

In nur zwei Jahren, zwischen April 2022 und April 2024, hat sich die Zahl der Familien in diesen Unterkünften mehr als versechsfacht. Die Zahl derer, die länger als die eigentlich vorgesehenen sechs Wochen bleiben, hat sich sogar verzehnfacht. Manchmal sind es mehr als fünf Jahre.

Und auch, wenn die Familien ein Dach über dem Kopf haben - es warten neue Probleme auf sie, sagt die Kinderärztin und Dozentin am University College London, Monica Lakhanpaul. Sie beobachtet vermehrt Kinder mit Vitamin-D-Mangel, der im schlimmsten Fall zu Rachitis führen kann, also zu weichen, verkrümmten Knochen. Eine Krankheit, die im viktorianischen London üblich war.

Rachitis, Krätze, Mangelernährung

"Viele der Eltern können sich kein gutes Essen leisten. Sie haben auch keinen Herd oder Kühlschrank", sagt Lakhanpaul. Außerdem könnten die Räume überfüllt sein, ein Garten fehlen, also das Sonnenlicht.

Zwar gibt es keine Statistik, die nach Erkrankungen in temporären Unterkünften aufschlüsselt. Doch der Gesundheitsdienst NHS verzeichnete für das Jahr 2022 in England rund 400 Kinder mit Rachitis. Lakhanpaul sagt: "Wir sehen anekdotische Evidenz, dass Rachitis wieder zunimmt."

Ein weiteres Problem seien schlechte Zähne. "Die Familien essen mehr verarbeitete Lebensmittel, weil sie anderes nicht lagern können. Also zum Beispiel Kekse."

Weil sie sich Badezimmer teilen müssten, seien auch Magen-Darm-Infekte ein Problem, Krätze breite sich aus. Manchmal gebe es Schimmel, oder Schlafprobleme, weil es nachts zu laut sei. Die NHS-Daten zeigen für ganz England außerdem einen Anstieg von Mangelernährung und der Vitaminmangelkrankheit Skorbut.

Die Folgen können katastrophal sein: Laut der Universität Bristol sind zwischen 2019 und 2023 mehr als fünfzig Kinder und Babies in temporären Unterkünften in England gestorben.

Weil der Londoner Wohnungsmarkt so hoffnungslos ist, werden immer mehr Familien - obwohl einige durchaus in London arbeiten - in andere Städte geschickt. "Oft sind das sozial benachteiligte Gegenden, wo Mieten zwar günstiger sind, es aber auch weniger Chancen gibt", sagt Anna Gupta, Dozentin für Sozialarbeit an der Royal Holloway Universität in London.

Die Familien fangen dann bei null an. "Kinder haben uns gesagt, sie trauen sich nicht, neue Freundschaften zu schließen, weil sie nicht wissen, ob und wann sie wegziehen müssen", sagt Ärztin Monica Lakhanpaul.

Insolvenzgefahr für die Bezirke

Für die Londoner Bezirke bedeutet die Situation enorme Ausgaben: Umgerechnet knapp fünf Millionen Euro kosten die temporären Unterkünfte pro Tag, so Tom Ashton von London Councils. "Durch eine lange Zeit der Sparpolitik haben die Kommunen und Bezirke deutlich weniger Gelder bekommen, während gleichzeitig die Kosten für Personal und Energie gestiegen sind. Das kann die Insolvenz bedeuten."

Bitter sei all das auch, sagt Forscherin Anna Gupta, weil es in London durchaus neuen Wohnraum gebe. "Wenn man durch London läuft, sieht man überall neue Hochhäuser. Aber viele können sich eine Wohnung dort nicht leisten."

Und nach offiziellen Schätzungen standen zuletzt, im Jahr 2023, rund 30.000 Wohnungen und Häuser in London mehr als sechs Monate lang leer.

Premierminister Keir Starmer hat einundhalb Millionen neue Häuser in Großbritannien versprochen. Doch es ist völlig unklar, ob und bis wann sie tatsächlich gebaut werden können, weil das Personal dafür fehlt. Und die Finanzspritze von einer Milliarde Pfund für die Bezirke und Kommunen in diesem Jahr dürfte nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 24. Januar 2025 um 05:55 Uhr.