Türkei "Wahlgewinner ist der Nationalismus"
Der türkische Wahlkampf ist zunehmend von scharfer nationalistischer Rhetorik geprägt. Das hat sich auch auf die Sitzverteilung im neuen Parlament ausgewirkt. Der Türkei-Experte Burak Copur erklärt im Interview: Das Land rückt noch mehr nach rechts.
tagesschau.de: Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu bedient sich in seinen jüngsten Aussagen vor der Stichwahl einer zunehmend nationalistischen Rhetorik. Er spricht beispielsweise davon, die "Ehre der Türkei zu schützen" und alle Flüchtlinge nach Hause zu schicken, sollte er an die Macht kommen. Im Westen sind viele über diese aggressive Rhetorik eines Sozialdemokraten irritiert. Wie sieht man das in der Türkei?
Burak Copur: In der Türkei trifft das, was Kilicdaroglu jetzt propagiert, nämlich seine Anti-Flüchtlingskampagne, einen Nerv. Es gibt eine hohe Flüchtlingsfeindlichkeit, gerade in der jungen Bevölkerung, und das versucht Kilicdaroglu nun aufzufangen und dadurch Stimmen zu gewinnen.
"Nationalistische Karte" als "einziger Ausweg"?
tagesschau.de: Haben Sie den Eindruck, dass in diesem Wahlkampf der Zweck die Mittel heiligt?
Copur: Ja, für große Teile der Opposition schon. Und anscheinend auch für Kilicdaroglu. Er sieht im Moment keinen anderen Ausweg, als auf die nationalistische Karte zu setzen und im Prinzip das zu kopieren, was Recep Tayyip Erdogan, aber auch die rechtsextremistische MHP und der Rechtsextremist Sinan Ogan machen.
Ob das Erfolg haben wird, werden wir sehen. Denn auf der anderen Seite stehen ja noch die Kurden, die pro-kurdische HDP, die ihn ja massiv unterstützt und keinen eigenen Kandidaten aufgestellt hat.
Man wird am Tag der Stichwahl am 28. Mai sehen, ob diese nationalistische Hysterie, die ja jetzt auch die Opposition verbreitet, nicht noch weiter Hass und Verbrechen gegenüber Flüchtlingen und Kurden produzieren wird.
"Nationalistische Elemente so erfolgreich wie lange nicht mehr"
tagesschau.de: In der Türkei sind nationalistische Kräfte so erfolgreich wie lange nicht mehr. Bei der Parlamentswahl hatten sie große Erfolge in allen Lagern. Kann man von einem Rechtsruck sprechen?
Copur: Definitiv. Die Türkei rückt jetzt noch mehr nach rechts. Rechnet man beispielsweise die pro-kurdische HDP, die türkische Arbeiterpartei TIP und die kemalistische, links-nationalistische CHP wohlwollend heraus, dann haben wir eine konservativ bis rechtsextremistisch-islamistische Parteienlandschaft im türkischen Parlament von mehr als 400 von insgesamt 600 Sitzen.
Das sind zwei Drittel des Parlaments. Da kann man schon argumentieren: Der eigentliche Gewinner dieser Wahlen sind der türkische Nationalismus und der politische Islam.
"Keine Aufarbeitung der türkischen Geschichte"
tagesschau.de: Weshalb sind nationalistische Parteien in der Türkei so erfolgreich?
Copur: Das hat mit der historischen Entwicklung der Türkei zu tun. Seit der politischen Bewegung der Jungtürken Anfang des 20. Jahrhunderts war der Nationalismus immer eine wichtige Konstante in der türkischen Politik. Kemal Atatürk hat als Mitglied der Jungtürken eigentlich den Gedanken des Nationalismus fortgeschrieben und zum festen Bestandteil der türkischen Staatspolitik gemacht.
Nationalismus ist im Prinzip eine zentrale Staatsideologie, wenn nicht sogar die wichtigste in der Türkei, und es fehlen im Prinzip die negativen Erfahrungen des 2. Weltkriegs, die Europa und auch Deutschland aufgrund des Nationalismus und Rassismus gemacht haben. Es gibt zudem keine Aufarbeitung der türkischen Geschichte, keine Aufklärungsarbeit über die Pogrome wie zum Beispiel an den Juden, Griechen oder Aleviten oder den Völkermord an den Armeniern.
Daher existiert in der Türkei auch nicht wirklich eine Demokratie- und Erinnerungskultur, sondern ein Überlegenheitsanspruch, die Türkei sei eine große Nation mit einer unbefleckten Geschichte.
"Türken- und Sunnitentum als einzig wahre Identität"
tagesschau.de: Was bedeutet Nationalismus überhaupt in der Türkei?
Copur: Türkischer Nationalismus bedeutet letztlich die Überhöhung des Türken- und Sunnitentums zur einzig wahren Identität. In der Türkei existiert faktisch ein ethnisch-religiöses Identitätskonzept, das Türken und Sunniten zu Bürgern erster Klasse macht.
Und alle anderen, Minderheiten wie Kurden, Aleviten, Griechen, Christen und Armenier müssen sich diesem Konzept unterordnen und assimilieren. Sie können prinzipiell in der Türkei als Mitglied einer Minderheit alles werden, sofern sie nicht ihre kulturelle Identität allzu sehr demonstrieren und sich nicht für ihre kulturellen Rechte einsetzen.
Befolgen sie nicht diese Regel der Unterwürfigkeit, reagiert der türkische Staat mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung.
"Zweifel, dass Kilicdaroglus Strategie verfangen wird"
tagesschau.de: Kilicdaroglu gehört selbst der religiösen Minderheit der Aleviten an und gilt auch im Jahr 2023 für nicht wenige nationalistische Sunniten aufgrund dessen als nicht wählbar. Glauben Sie denn, dass er dennoch mit seiner verschärften Rhetorik Stimmen gewinnen kann?
Copur: Tatsächlich hat der erste Wahlgang gezeigt, dass selbst viele Wähler der nationalistischen IYI-Partei, die im Bündnis mit Kilicdaroglus CHP ist, ihn nicht so stark unterstützt haben, sondern Sinan Ogan ihre Stimme gegeben haben. Das heißt, dass er nicht in der Lage war, rechts-nationalistische Kreise für sich zu gewinnen.
Und er versucht jetzt, quasi mit dieser nationalistischen Anti-Flüchtlings-Kampagne diese Kreise anzusprechen. Aber hier ist eben die große Frage, ob die Wählerinnen und Wähler nicht eher das Original statt die Kopie wählen. Ich habe erhebliche Zweifel, ob diese nationalistische Strategie von Kilicdaroglu verfangen wird.
Ogans Draht nach Aserbaidschan
tagesschau.de: Der nationalistische Präsidentschaftskandidat Ogan, den Sie angesprochen haben, hat im ersten Wahlgang mehr als fünf Prozent der Stimmen geholt und mittlerweile eine Wahlempfehlung für Erdogan abgegeben. Sind Sie überrascht?
Copur: Überhaupt nicht. Bereits am ersten Wahlabend des 14. Mai war ich davon überzeugt, dass sich Ogan auf die Seite von Erdogan schlagen wird. Zunächst stammt Ogan aus einer aserbaidschanischen Familie ab, er selber pflegt enge Beziehung zum Präsidenten Aserbaidschans, Ilham Alijew, der kürzlich wiederum am Telefon Ogan bat, mit Erdogan zu kooperieren.
Es liegt auf der Hand, dass Präsident Erdogan Ogan einen lukrativen Posten zugesichert hat und vermutlich auch plant, Ogan zum Nachfolger von MHP-Chef Devlet Bahceli zu machen. Ob allerdings alle Wähler von Ogan seiner Wahlempfehlung folgen werden, ist längst nicht ausgemacht.
Kontinuität und Zuspitzung?
tagesschau.de: Staatspräsident Erdogan geht als Favorit in die Stichwahl. Sollte er die Wahl gewinnen, wo wird innenpolitisch der Fokus liegen, was erwarten Sie in der Außenpolitik?
Copur: Vorausgesetzt, er gewinnt die Stichwahl, gehe ich davon aus, dass es ein "weiter so" sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik geben wird. Womöglich wird sich das in der Innenpolitik noch zuspitzen und er zum Beispiel einen noch härteren Kurs gegen die Kurden und die PKK fahren.
Es könnte auch zum Export innertürkischer Konflikte nach Deutschland beziehungsweise auch zu einer Auswanderungswelle junger Menschen kommen. Ich rechne auch mit einer zunehmend aggressiven Außenpolitik von Präsident Erdogan, denn dann säße er fest im Sattel und würde versuchen, sich weiter außenpolitisch als starker Staatsmann zu verorten.
"Absolut weltfremd und unrealistisch"
tagesschau.de: Gewinnt Kemal Kilicdaroglu: Macht er seine Wahlversprechen wahr und schickt die syrischen Flüchtlinge aus dem Land?
Copur: Es wird nicht möglich sein, Millionen von Flüchtlingen, deren Kinder zum Teil in der Türkei geboren und aufgewachsen sind, wieder in ihre Heimat zu schicken. Das ist absolut weltfremd und unrealistisch, zumal ja viele vor Syriens Machthaber Baschar al-Assad geflohen sind und Angst um ihr Leben hätten.
Es wird vermutlich der Versuch unternommen werden, egal, wer nun der nächste Präsident wird, einen Teil der Flüchtlinge zurückzuführen. Denn beim Thema "Flüchtlinge" ist in der Türkei enorm Druck im Kessel.
Das Gespräch führte Katharina Willinger, ARD-Studio Istanbul