Interview mit ARD-Korrespondent Abresch "Große Demos gibt es nicht mehr"
Mehr als zwei Jahre nach der Katastrophe ist die Lage in Fukushima außer Kontrolle. Täglich sickert radioaktives Wasser ins Meer, viele Probleme sind nicht lösbar. ARD-Korrespondent Philipp Abresch spricht mit tagesschau.de über das Leben der Japaner mit der Atomruine.
tagesschau.de: Die Tatsache, dass radioaktives Wasser bei Fukushima ins Meer läuft, ist nicht neu. Nun scheint aber eine neue Dramatik erreicht, weil eine unterirdische Barriere, die das Wasser aufhalten soll, undicht ist. Jeden Tag laufen nach Angaben der japanischen Regierung 300 Tonnen verseuchtes Wasser ins Meer. Ministerpräsident Shinzo Abe will dem Betreiber Tepco helfen und hat Sofortmaßnahmen angekündigt. Wieso erst jetzt?
Philipp Abresch: Es war von vornherein klar, dass die Unmengen verseuchten Wassers irgendwann zu einem massiven Problem würden. Es muss ja irgendwo gelagert werden. Dass die Situation jetzt so dramatisch beschrieben wird, erstaunt mich, denn jeder hat gewusst, was passieren wird. Dass die Regierung Sofortmaßnahmen einleiten will, halte ich für blinden Aktionismus. Es hätte überhaupt nicht soweit kommen müssen.
tagesschau.de: Wie sollen denn diese Sofortmaßnahmen aussehen?
Abresch: Das ist ein großes Geheimnis der Regierung von Shinzo Abe. Es heißt, dass sich der Industrieminister einschalten wird, dass er enger mit Tepco zusammenarbeiten soll, dass es neues Geld gibt. Das Problem ist aber ein ganz anderes: Man weiß nicht, wie man der Katastrophe technisch Herr werden soll. Für viele Herausforderungen gibt es bis heute keine technischen Lösungen. Wie soll man zum Beispiel die Brennstäbe aus den Reaktoren sichern? Damit werden sich noch Generationen von Ingenieuren beschäftigten. Die Barriere aus Chemikalien, die den Boden verhärtet und ein Abfließen des Wassers verhindern soll, scheint jedenfalls nicht gefruchtet zu haben.
"Die Japaner reden nicht so viel über die Katastrophe"
tagesschau.de: Tepco hat immer wieder beteuert, dass nur noch geringe Mengen kontaminierten Wassers ins Meer fließen. Es gab aber schon früh Hinweise darauf, dass das nicht stimmt, zum Beispiel extrem belastete Fische, die gefangen wurden.
Abresch: Tepco hat eine Tradition des Verharmlosens, des Beschwichtigens, des Verschweigens. Häufig erfährt man erst im Nachhinein, dass etwas schiefgegangen ist. Dieses Verhalten hätte auch die Regierung hellhörig machen müssen. Wenn sie nicht ohnehin schon gewusst hat, was in Fukushima tatsächlich vor sich geht.
tagesschau.de: Ist das denn anzunehmen?
Abresch: Das ist Spekulation. Aber Tepco ist ein Unternehmen, das inzwischen quasi verstaatlicht ist, alles Geld für die Aufräumarbeiten kommt von der Regierung. Ich gehe davon aus, dass sie sehr genau Bescheid weiß, was in Fukushima passiert.
tagesschau.de: Ist denn das drohende Brechen der Barriere aktuell ein Thema in japanischen Medien?
Abresch: Ja, die Hauptsendungen im Fernsehen berichten darüber, die Zeitungen auch, aber es ist erstaunlich, dass im Vergleich zu Deutschland wenig Einschätzung dabei ist, sondern fast ausschließlich Faktenvermittlung. Was es für Auswirkungen hat, dass radioaktives Wasser ins Meer fließt, muss man sich selbst zusammenreimen. Generell spielt Fukushima in den Medien nicht eine so große Rolle, wie man erwarten würde. Es wird einfach nicht so viel über die Katastrophe geredet. Ich hab manchmal das Gefühl, in Deutschland wird häufiger über Fukushima geschrieben und gesprochen als in Japan.
"Die ganz großen Demonstrationen sieht man nicht mehr"
tagesschau.de: Wie reagiert denn die Bevölkerung auf diese Nachrichten? Wird das einfach so akzeptiert oder gibt es auch kritische Stimmen?
Abresch: Es gibt sicherlich nach wie vor kritische Stimmen. 80 Prozent der Japaner sind weiterhin gegen die Atomkraft. Dennoch haben sie Ministerpräsident Abe, einen absoluten Befürworter der Atomkraft, gerade ins Amt gewählt. Die ganz großen Demonstrationen wie im letzten und vorletzten Jahr sieht man hier nicht mehr. Man versucht, sich mit dem neuen Leben einzurichten.
tagesschau.de: Haben sich die Menschen an die Katastrophe gewöhnt?
Abresch: Es ist eine Mischung aus vielen Faktoren: Vergessen, Verdrängen, Hilflosigkeit. Die Einwohner von Fukushima leben mit dem ständigen Risiko radioaktiver Strahlung. Sie versuchen, ihren Alltag mit der Atomruine irgendwie zu meistern. In Iwaki, einer Stadt, die nur wenige Kilometer von Fukushima entfernt am Meer liegt, hat vor wenigen Tagen ein Strand eröffnet. Die Menschen sonnen sich dort, spielen Beachball und schwimmen sogar im Meer und das in unmittelbarer Nähe des havarierten Atomkraftwerks.
tagesschau.de: Haben sie denn keine Angst vor der Strahlung?
Abresch: Doch, schon. Besonders in Fukushima, wo es immer mehr Verdachtsfälle von Krebs bei Kindern gibt. Vor allem die Mütter sind besorgt. Es gibt hier das Phänomen, dass sich Paare aufgrund des Unglücks trennen. Häufig ziehen die Mütter mit ihren Kindern weg aus Angst vor der Strahlung und die Väter bleiben in Fukushima, weil sie da ihre Arbeitsplätze haben. Für das Phänomen gibt es sogar einen japanischen Begriff. Die Katastrophe hat schon jetzt ganz konkrete Auswirkungen auf das Leben der Japaner.
Das Interview führte Friederike Ott, tagesschau.de.