Europawahl 2024
EU-Politik nach der Wahl Hält Europas Mitte?
Nach der Europawahl stellt sich die Frage, wie die neuen Kräfteverhältnisse die Politik von Parlament und Kommission verändern werden. Die bisherige informelle Koalition der Mitte könnte ins Wanken geraten.
Wenn alle Stimmen abgegeben, alle Wahllokale geschlossen sind, haben Europas Wählerinnen und Wähler ihren Teil getan. Danach können sie beobachten, welche handfeste Folgen sich für die Politik in der Europäischen Union daraus ergeben.
Recht schnell wird feststehen, welche 720 Abgeordnete den Einzug ins Europäische Parlament schaffen, wer also demnächst einen Arbeitsplatz in Brüssel und Straßburg hat.
Wie werden die Rechten die Politik prägen?
Es ist absehbar, dass Rechtsaußen-Parteien deutlich mehr Sitze im Parlament einnehmen werden. Welche Konsequenzen das hat, hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Erstens: In welchem Maß werden Teile des rechten Spektrums gebraucht, um bei der Wahl der Kommissionspräsidentin eine Mehrheit zu sichern? Dann würden sie wohl vorher auch inhaltliche Zugeständnisse in ihre Richtung einfordern.
Zweitens: Gelingt es den Rechtsaußen-Parteien miteinander, ein starkes Bündnis zu schmieden? Dann müssten die, die sich als Mitte sehen, mit deutlichem Widerstand bei der Gesetzgebung rechnen. Bisher ist ein solcher Zusammenschluss allerdings nicht gelungen.
Viele Machtfragen lösen sich erst nach Tagen, Wochen oder Monaten. In Parteizentralen und an Regierungssitzen sind die Wahlkampf-Planungen jetzt Geschichte. Es beginnen die Verhandlungen um das politische Programm, Bündnisse und Posten.
Wer wird die Kommission führen?
Im Mittelpunkt steht die Frage: Wer wird in Zukunft die EU-Kommission führen, die eine Art Regierung der Europäischen Union ist? Amtsinhaberin Ursula von der Leyen oder doch jemand ganz anderes? Die ersten Hochrechnungen sehen die Europäische Volkspartei (EVP) vorn. Das ist die Parteienfamilie, zu der auch von der Leyens CDU gehört.
Europas Christdemokraten werden also den Anspruch erheben, dass von der Leyen weitermacht. Ein Automatismus ist das jedoch nicht. Nach der Wahl beginnt ein komplexer politischer Verhandlungsprozess.
"Dreidimensionales Schach" nennt das einer, der daran schon einmal selbst beteiligt war. Gemeint ist, dass eine zukünftige Kommissionspräsidentin gleich zwei Mal überzeugen muss: bei den Staats- und Regierungschefs der EU sowie im Parlament.
Werben bei den Mitgliedstaaten
Formell machen die Mitgliedstaaten den ersten Zug, indem sie einen Vorschlag für eine Kandidatin oder einen Kandidaten machen. Dazu braucht es nicht zwingend grünes Licht aus allen 27 Hauptstädten, sondern eine qualifizierte Mehrheit.
Ursula von der Leyen war viel unterwegs im Wahlkampf. In dieser Woche stand sie unter anderem auf einer Bühne mit dem finnischen Ministerpräsident Petteri Orpo, in Schweden im Wald mit dessen Amtskollegen Ulf Kristersson.
Beide Regierungen sind in der Hand von von der Leyens Parteienfamilie. Es ist davon auszugehen, dass die Spitzenkandidatin viel telefoniert und um Unterstützung geworben hat. Und das geht jetzt erst recht weiter.
Welche Zusammenarbeit im Parlament?
Das EU-Parlament - das ist die zweite Ebene des "dreimensionalen Schachs" - muss einem Vorschlag des Rates danach zustimmen. In der Praxis laufen diese beiden Verhandlungsprozesse nicht nacheinander, sondern parallel ab.
Das Team um von der Leyen lotet aus, welche Zusammenarbeit für die fünf Jahre der Legislaturperiode denkbar ist. Am Ende muss eine Mehrheit im Parlament gesichert sein.
Mit welchem politischen Programm wird von der Leyen in die Gespräche mit den Gruppen im Parlament gehen? Im Wahlkampf war das Programm ihrer EVP ihre Richtschnur. Beim Nominierungskongress in Bukarest im März war dieses "Manifest" beschlossen worden.
Angebote an andere Parteien
Das Dokument hat in Teilen eine konservativere Ausrichtung als die bisherige Politik der Kommissionspräsidentin, zum Beispiel im Bereich Migration. Doch das eigene EVP-Programm wird sich nicht zu einhundert Prozent halten lassen. Also wird von der Leyen Angebote in Richtung möglicher Unterstützer im EU-Parlament machen müssen.
"Die Mitte muss halten", sagte sie vor ein paar Tagen in Helsinki im Gespräch mit dem ARD-Studio Brüssel. Was bedeutet das genau? Das wird jetzt mit Leben zu füllen sein. Bekannt ist, dass von der Leyen gerne auf eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten und den Liberalen bauen würde. Doch das könnte nicht reichen, um die nötige Mehrheit im Parlament zu erreichen.
Politische Gratwanderung
Im Wahlkampf hatte von der Leyen immer wieder drei Kriterien für eine Kooperation genannt: pro Europa, pro Ukraine, pro Rechtsstaat. Sie hatte auch klar gemacht, dass sie sich im Rahmen dieser Kriterien auch eine Zusammenarbeit mit einzelnen Abgeordneten der rechten Fraktion EKR, der Europäischen Konservativen und Reformer, vorstellen kann. Dazu gehört auch die postfaschistische Partei von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni.
Meloni ist bisher auf EU-Ebene überraschend gemäßigt aufgetreten. Doch ihre Kritiker werfen ihr vor, im eigenen Land eine Verfassungsreform voranzutreiben, die ihr selbst sehr viel mehr Macht verschaffen würde.
Journalisten des Senders RAI werfen der Regierung Eingriffe in ihre Arbeit vor. Lautstark ist deswegen die Kritik zum Beispiel von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen. Dem hat sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz angeschlossen.
Hier beginnt also die politische Gratwanderung für Ursula von der Leyen. Kommt sie Melonis Leuten zu sehr entgegen, könnte das die notwendige Unterstützung bei anderen Parteien kosten. Die EKR-Fraktion lässt wissen, dass man grundsätzlich zur Zusammenarbeit mit von der Leyen als Kommissionspräsidentin bereit sei. Es komme aber auf das Programm an.
Von der Leyen steht am Abend vor ihren jubelnden Anhängern und betont, ohne die EVP könne keine Mehrheit gebildet werden: "Wir werden eine Bastion bauen gegen die Extremisten." Es werden intensive Zeiten für die Spitzenkandidatin und ihre Verhandlungspartner.