Europawahl 2024
Europawahlen 2024 "Macht einen Unterschied, wer im Parlament sitzt"
Wie wichtig die EU und die Europawahlen wirklich sind, werde von vielen unterschätzt, meint Europa-Expertin Thu Nguyen. Das liege auch an der deutschen Politik - und an der Berichterstattung der deutschen Medien.
tagesschau.de: Die Beteiligung an Europawahlen lag stets deutlich unter jener an Bundestagswahlen. Das Interesse scheint relativ gering zu sein. Warum ist das so?
Thu Nguyen: Die EU wird fälschlicherweise oftmals als nicht so wichtig erachtet. Es wird großteils vielleicht nicht verstanden, wie wichtig die Europawahlen wirklich sind und was die EU eigentlich an Gesetzen erlässt. Wie viel dort entschieden wird und welche Auswirkung das auf unser Leben und die Gesetzgebung in Deutschland hat.
Das wird in den deutschen Medien und von deutschen Politikern auch nicht immer so in die Bevölkerung getragen, wie es sein sollte. Wir haben oft das Problem, dass, wenn etwas unbequem ist, die Verantwortung auf die EU geschoben wird. Wenn aber etwas ganz toll läuft, dann war es natürlich die Bundesregierung. Das ist ein grundsätzliches Problem in den Mitgliedstaaten, kein rein deutsches.
Andererseits ist die EU auch komplizierter als nationale Systeme, einfach dadurch, dass mehr politische Ebenen aufeinandertreffen. Und es gibt immer das Gefühl, dass Brüssel etwas weiter weg ist als die nationale Regierung.
"Themen, die Deutschland allein gar nicht lösen kann"
tagesschau.de: Wie wichtig ist die Europawahl denn?
Nguyen: Die Europawahl ist extrem wichtig. Auf europäischer Ebene werden Themen entschieden, die Deutschland allein gar nicht lösen kann - sei es bei Klimaschutz, Migration, Verbraucherschutz oder Bürgerrechten.
Ich habe mir zu den Europawahlen verschiedene Studien und Umfragen angeschaut - und in Deutschland werden Bundestagsentscheidungen für viel wichtiger gehalten als Entscheidungen des Europäischen Parlaments. Laut der Bundesregierung gehen jedoch zwei Drittel der deutschen Gesetze auf Gesetze der EU zurück.
Es ist einfach noch nicht in der breiteren Bevölkerung angekommen, welche und wie viele Gesetze tatsächlich auf europäischer Ebene erlassen werden. Und dafür kommt es darauf an, wer im EU-Parlament sitzt.
"Sehr nach innen gerichtete Bundesregierung"
tagesschau.de: Sie kritisieren die deutsche Politik. Was muss sich da ändern?
Nguyen: In der deutschen Politik müsste Europa viel mehr mitbedacht werden. Wir haben derzeit eine sehr nach innen gerichtete Bundesregierung. Es werden wenig konstruktive Ideen für Europa vorgebracht. Man streitet ja kaum über Inhalte, die auf europäischer Ebene passieren. Die Debatten werden sehr national geführt.
Ich frage mich oft, warum der Wahlkampf nicht europäischer gestaltet wird. Meine Vermutung ist, dass es diesen sich gegenseitig bedingenden Effekt gibt: Dass Politiker glauben, dass sie mit Europa keine Stimmen fangen können, weil es wenig Interesse gibt. Und weil dann kaum über Europa gesprochen wird, wird den Wählern die Wichtigkeit der EU nicht klar.
Aber es gibt auch ein strukturelles Problem. Die EU-Abgeordneten werden nicht europaweit gewählt, sondern auf nationaler Ebene: Eigentlich haben wir 27 nationale Wahlen. In Deutschland können wir ja nur deutsche Abgeordnete wählen. Dadurch ist der Wahlkampf immer nationaler geprägt als es für die Europawahl wünschenswert wäre.
Außerdem besteht oft das Gefühl, dass es bei den Europawahlen keine direkte Korrelation zwischen Wahlergebnis und der Exekutive gibt. Denn es gibt ja keine vom Parlament gestützte Regierung, wie wir sie auf nationalem Level kennen. Auch wenn die Wahl der Kommissionspräsidentin natürlich vom Ergebnis der Parlamentswahlen abhängt.
Trotzdem gibt es einen positiven Trend: Die Wahlbeteiligung 2019 war erstmals wieder gestiegen. Und laut manchen Prognosen soll sie diesmal noch höher liegen.
"Müsste mehr europäische Berichterstattung geben"
tagesschau.de: Sie nennen auch die deutschen Medien. Was sollten die anders machen?
Nguyen: Es müsste mehr europäische Berichterstattung geben, gerade um die Wahlen herum. Ein Anfang wäre etwa die Ausstrahlung der europäischen Spitzenkandidatendebatten im Fernsehen.
Genauso wichtig wäre eine Einordnung der Themen in Sendungen wie der ARD-Wahlarena durch die Journalisten, welche Fragen auf europäischer Ebene entschieden werden und welche auf nationaler.
Aber auch jenseits der Wahlen ist es wichtig, Europapolitik zu vermitteln.
"Wichtig, dass wir beim Spitzenkandidatenprinzip bleiben"
tagesschau.de: Sie sprechen die Struktur der EU an. Welche Reformen halten Sie für am drängendsten?
Nguyen: Es ist wichtig, dass wir in den nächsten Wochen beim Spitzenkandidatenprinzip bleiben. Dass nicht wie nach der letzten Europawahl jemand Kommissionspräsidentin wird, die gar keine Kandidatin der europäischen Parteien im Wahlkampf ist. Wenn die Politik den Bürgerinnen und Bürgern vermitteln will: Doch, ihr habt eine Wahl und es ist wichtig, wen ihr wählt, - dann ist das entscheidend.
Zwei weitere Reformen sind wichtig: Einmal die Frage der Einstimmigkeit. Denn wir müssen uns fragen, wie handlungsfähig die EU zukünftig in der neuen globalen Welt sein soll. Wie sehr wir uns erpressen lassen wollen von Akteuren wie Viktor Orban, dem Regierungschef Ungarns. Das hat Auswirkungen auf die Frage, wie effizient und damit glaubwürdig die EU ist.
Und das zweite ist die Frage der Rechtsstaatlichkeit: Wie können wir auch weiterhin nach innen unsere Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie schützen?
"Wird keinen großen rechten Block geben"
tagesschau.de: Was erwarten Sie denn von dem Ausgang dieser Europawahl?
Nguyen: Es gab sehr viele Spekulationen über einen Rechtsruck im Europaparlament. Die letzten Umfragen haben aber gezeigt, dass wahrscheinlich die Mitte aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen - die informelle große Koalition - halten wird. Die hat momentan eine relativ komfortable Mehrheit.
Wie stark die Fraktionen sind und wer mit wem zusammenarbeitet, wird sich aber erst in den Wochen nach der Wahl ergeben. Das ist wichtig, denn die Stärke der Fraktion bestimmt etwa Ausschussvorsitze und Positionen im Parlament.
Noch gibt es zwei große rechte Fraktionen, die EKR und die ID. Ich glaube nicht, dass sie sich vereinigen werden. Denn die internen Differenzen sind zu groß - wie man auch an dem Rausschmiss der AfD aus der ID gesehen hat.
Es gibt Spekulationen, dass es nun eine dritte rechte Gruppe um die AfD geben wird - da wäre natürlich die große Frage: mit wem? Wahrscheinlich wird es also mehr rechte Abgeordnete im Parlament geben, aber keinen großen rechten Block, der wirklich rechte Politik machen kann.
Die andere Frage ist, wie die nächste Kommissionsspitze gewählt wird. Wenn die christdemokratische Fraktion EVP den Präsidenten oder die Präsidentin stellt, lässt sie sich von der EKR wählen? Wenn ja, würde sie dadurch die Unterstützung der Sozialdemokraten verlieren? Oder lässt sie sich doch mit den Stimmen der Grünen wählen und würde dann Teile der EVP verprellen?
"Eine wirklich transnationale Debatte"
tagesschau.de: Gab es im Wahlkampf Aspekte, die Sie überrascht haben?
Nguyen: Diese Diskussionen darüber, mit wem Ursula von der Leyen als potenzielle Kommissionspräsidentin auf europäischer Ebene kooperieren wird - das hat mich sehr überrascht.
Es ist eine wirklich transnationale Debatte über die Positionierung nationaler Parteien: Was macht Italiens Giorgia Meloni, was Frankreichs Marine Le Pen, mit wem arbeitet die AfD zusammen? Diese Debatte gab es in der Vergangenheit nicht so ausgeprägt. Dass man auch in Deutschland über andere nationale Parteien gesprochen hat, war eine positive Entwicklung.
Ansonsten muss ich sagen, der Wahlkampf in Deutschland hat sehr spät angefangen und war dann kaum wahrnehmbar.
"Die einzelne Stimme macht einen Unterschied"
tagesschau.de: Wenn Sie jetzt noch jemanden überzeugen müssten, zur Wahl zu gehen: Wie würden Sie das tun?
Nguyen: Es macht einen Unterschied, wer im Europaparlament sitzt. Es macht einen Unterschied, wer die Kommissionspräsidentin ist. Es macht gerade bei diesen großen Themen wie Klima, Migration, Bürgerrechten, Verbraucherschutz einen Riesenunterschied, ob wir ein progressives Parlament haben oder nicht.
Und die einzelne Stimme macht vor allem deshalb einen Unterschied, weil es in Deutschland keine Sperrklausel gibt: 0,7 Prozent der Stimmen reichen für einen Sitz. Das heißt, es zählt wirklich jede Stimme, egal ob sie für eine große oder eine kleine Partei abgegeben wird.
Das Gespräch führte Christoph Schwanitz, tagesschau.de.