Rauch steigt nach erneuten Luftangriffen über der syrischen Rebellenhochburg Duma auf.

Mutmaßlicher Giftgasangriff auf Duma Was bisher bekannt ist

Stand: 09.04.2020 16:09 Uhr

Der mutmaßliche Einsatz von Chemiewaffen in Duma lässt den Konflikt in Syrien weiter eskalieren. Was am 7. April genau geschah, ist strittig. Die Rebellen machen die Truppen von Präsident Baschar al-Assad verantwortlich, die syrische Regierung und ihr wichtigster Verbündeter Russland dementierten das. Ein Überblick.

Von Wolfgang Wichmann, tagesschau.de

Was geschah in Duma am 7. April?

Bei dem mutmaßlichen Giftgaseinsatz auf die Rebellenhochburg Duma in Ost-Ghouta am Samstag sollen nach Angaben der Syrian American Medical Society (SAMS) und der Organisation "Weißhelme" mindestens 42 Menschen getötet worden sein. Mehr als 500 Personen seien in Krankenhäusern behandelt worden.

Die Vereinten Nationen sprachen unter Berufung auf Berichte von mutmaßlich 49 Getöteten und Hunderten Verletzten. UN-Mitarbeiter in Syrien konnten die Berichte über einen Einsatz von Chemiewaffen in Duma bislang aber nicht unabhängig bestätigen.

Das von der Hilfsorganisation Weißhelme veröffentlichte Foto zeigt einen kleinen Jungen, der sich eine Atemmaske auf das Gesicht drückt, neben ihm ein junges Mädchen.

Zum Beweis für ihre Berichte über den Einsatz von Chemiewaffen veröffentlichten "Weißhelme"-Aktivisten Fotos von Patienten, die gegen Symptome wie Atemnot kämpfen.

Das US-Außenministerium geht offenbar von deutlich mehr Todesopfern aus: "Was wir glauben zu wissen ist, dass es eine Form von chemischer Waffe war, die bei diesem Angriff in Syrien eingesetzt wurde, und dass mindestens 85 Menschen getötet wurden, von denen wir bisher wissen", sagte Sprecherin Heather Nauert.

Wie verlässlich sind die Angaben?

Die Stadt Duma liegt im Gebiet Ost-Ghouta - östlich von Damaskus. Die Region wird nach wie vor von Assad-Truppen oder Verbündeten belagert. Der freie Zugang für internationale Helfer oder Journalisten ist nicht möglich. Eine Prüfung der Vorgänge vor Ort ist deshalb schwierig bis unmöglich. UN-Mitarbeiter hätten außer bei den selten erlaubten Hilfskonvois keinen Zugang, teilten die UN mit.

Dem Außenministerium in Moskau zufolge konnten russische Soldaten nach Duma reisen, um die Lage vor Ort zu überprüfen. Wie russische Medien berichteten, besuchten die Militärs unter anderem ein Krankenhaus, um Patienten zu befragen. Dabei seien keine Personen mit Symptomen angetroffen worden, die auf einen Kontakt mit Giftgas (Sarin oder Chlorgas) hindeuten.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilte dagegen mit, bei etwa 500 Krankenhauspatienten seien Anzeichen und Symptome festgestellt worden, die aufträten, wenn man giftigen Chemikalien ausgesetzt sei. Die Behörde stützt sich dabei auf Angaben von Experten und Medizinern vor Ort. Besonders Anzeichen von schweren Irritationen der Schleimhäute, Atemversagen und Störungen des Zentralnervensystems seien bei Frauen, Männern und Kindern festgestellt worden.

Wie reagierten die USA?

US-Präsident Donald Trump schloss militärische Schritte gegen die syrische Regierung nicht aus. Am Montag sagte er, seine Regierung werde in den nächsten 24 bis 48 Stunden eine Entscheidung über die Reaktion der USA treffen. Er erklärte, dass alle Optionen in Betracht gezogen würden.

Inzwischen konkretisierte Trump seine Drohung per Twitter und kündigte Raketenangriffe auf Syrien an. Russland habe zwar erklärt, alle Raketen abzuschießen, die auf Syrien abgefeuert würden, schrieb Trump. Doch die Geschosse würden kommen. Sie seien "schön, neu und 'schlau'".

Wie reagierten Assads Verbündete?

Russlands Außenminister Sergej Lawrow erklärte bei einer Pressekonferenz in Moskau am Montag, russische Experten hätten in Duma "keinerlei Spuren" von Giftgas gefunden und sprach dem russischen Staatssender RT zufolge von "Fake News". "Unsere Militärspezialisten waren vor Ort", sagte Lawrow. Sie hätten keine Spuren von Chlor oder anderen chemischen Substanzen gefunden, die gegen Zivilisten eingesetzt worden seien. Berichte über einen syrischen Angriff mit Chemiewaffen bezeichnete Lawrow als Provokation.

Der Iran hält die Meldungen über einen Giftgasangriff in Syrien für einen Vorwand für ein militärisches Vorgehen gegen die Regierung von Präsident Baschar al-Assad. Ein Sprecher des Außenministeriums in Teheran erklärte noch am Sonntag, solche Vorwürfe aus den USA und anderen westlichen Ländern seien ein Hinweis darauf, dass ein Militäreinsatz geplant sei.

Im UN-Sicherheitsrat scheiterten in der vergangenen Nacht drei Resolutionsentwürfe. Russland brachte dabei zwei Resolutionen ein, die keine Mehrheit fanden. Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja stimmte dabei für Russland gegen einen Entwurf der USA. Dabei warf auch er den Amerikanern vor, den vorgelegten Entwurf als "Vorwand" für einen möglichen Militäreinsatz in Syrien verwenden zu wollen.

Was spricht für eine Verantwortung Assads?

Das Recherchenetzwerk "Bellingcat" hat in den vergangenen Tagen im Netz veröffentlichte Videos und Informationen untersucht und die Erkenntnisse nun in einem ersten Bericht online veröffentlicht. Demzufolge habe es am 7. April in Duma mindestens zwei Angriffe auf unterschiedliche Gebäude gegeben.

Videomaterial in den sozialen Medien zeigt demnach mindestens 34 leblose Körper, die alle in einem Gebäude gefilmt worden waren. Durch Abgleiche mehrerer Videos war es "Bellingcat" zufolge möglich, den Ort des Geschehens in Duma zu identifizieren. Auf Videos sind auch russische Soldaten zu erkennen, die - wie vom russischen Außenministerium behauptet - das Gelände nach dem Angriff inspizierten.

Auf einem Video deutlich zu erkennen ist ein gelber Gastank, wie er von früheren Angriffen mit Chlorgas in Syrien bereits bekannt ist. Wie die Recherche von "Bellingcat" ergab, hatte der Gaszylinder offenbar das Dach des Gebäudes getroffen und durchschlagen. Ein zweiter gelber Gaszylinder wurde dem Bericht zufolge an anderer Stelle in Duma fotografiert und gefilmt.

Im Ergebnis geht "Bellingcat" davon aus, dass die im Haus gefilmten leblosen Körper mit größter Wahrscheinlichkeit durch die auf das Haus abgeworfene Munition getötet wurden. Dabei habe es sich höchstwahrscheinlich um Chlorgas gehandelt, das von einem Hubschrauber abgeworfen worden sei. Dem Bericht zufolge hatten Augenzeugen Hubschrauber gesichtet, die vor dem Angriff in der nahegelegenen Militärbasis Dumayr gestartet waren - und damit von einem Stützpunkt des syrischen Militärs.

Was spricht gegen eine Verantwortung Assads?

Andere Quellen im Netz vermuten eine sogenannte False-Flag-Operation in Duma, einen "Angriff unter falscher Flagge". Entsprechende Thesen sind nach Chemiewaffenangriffen in Syrien nicht neu. Sie waren beispielsweise besonders prominent nach dem Giftgasangriff in Chan Scheichun vor genau einem Jahr.

Auch nach dem mutmaßlichen Chlorgasangriff in Duma steht die Idee im Raum, der Anschlag sei von Rebellen verübt worden, die kurz davor standen, Ost-Ghouta nach monatelangem Kampf den Assad-Truppen zu überlassen. Ben Nimmo zufolge, Analyst für die Denkfabrik "Atlantic Council", erhielt diese Theorie einen besonderen Schub durch Aussagen des russischen Außenministeriums, welches von "gefälschten Beweisen" sprach.

Laut Nimmo wurde die These früh auch von Kreml-nahen Accounts in den sozialen Medien verbreitet. Er verweist bei Twitter auf Accounts, die diese Theorie auch schon beim Abschuss des Flugzeugs MH-17 und nach dem Angriff auf Chan Scheichun verbreiteten. Bemerkenswert aus Nimmos Sicht: Die False-Flag-These werde auch von vielen rechts-konservativen Profilen verbreitet, mit dem Tenor, Assad habe durch den Einsatz von Chemiewaffen nichts zu gewinnen. Belastbare Belege für eine False-Flag-Mission gibt es derzeit aber nicht.

Doch die Glaubwürdigkeit der Quellen in Duma wird von vielen hinterfragt. Kritik äußerte unter anderem BBC-Mitarbeiter Riam Dalati. Er veröffentlichte bei Twitter Fotos von Opfern des mutmaßlichen Chlorgasangriffs auf Duma. Darauf sei zu erkennen, so die Beschreibung Dalatis, dass die Leichen getöteter Kinder von Rettern nach deren Bergung besonders tragisch angeordnet worden waren - in der Pose einer "letzten Umarmung". Diese Umarmung habe es so aber nicht gegeben und sei von Aktivisten "inszeniert" worden.

Für Aufsehen sorgt nun auch eine Aussage des russischen Generalstabschefs Waleri Gerassimow von Mitte März. Russlands ranghöchster Militär hatte damals erklärt, man verfüge über verlässliche Informationen, dass Aufständische in Syrien einen Anschlag mit Chemiewaffen planten. Dieser solle dann der syrischen Armee angelastet werden. Zu diesem Zweck seien Personen extra nach Ost-Ghouta gebracht worden. Die "Weißhelme" seien bereit, dann darüber zu berichten. Die USA, so sagte Gerassimow der Nachrichtenagentur RIA, warte auf eine solche Provokation, um einen Militärangriff auf Gebiete der syrischen Regierung in Damaskus zu rechtfertigen.

Wer soll Klarheit bringen?

Die Organisation für ein Verbot von Chemiewaffen (OPCW) kündigte an, Experten in die syrische Stadt Duma zu schicken, um den Vorfall zu untersuchen. Die syrische Regierung sei aufgefordert worden, die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Das Team soll am Samstag die Arbeit vor Ort aufnehmen, hieß es aus Den Haag.

Hinter dem Einsatz der sogenannten fact-finding-mission (FFM) der OPCW steht demnach eine Bitte der syrischen Regierung und Russlands. Das syrische Außenministerium hatte erklärt, die OPCW zu einer Untersuchung des mutmaßlichen Angriffs eingeladen zu haben. Zuvor hatte sich bereits Russland zu einer internationalen Begutachtung vor Ort bereit erklärt.

Mutmaßliche Chlorgasangriffe in Syrien seit Jahresbeginn
Seit Jahresbeginn meldeten Aufständische und Hilfsorganisationen in Syrien mehrere Angriffe mit Chlorgas:

7. April: In Duma kommen unterschiedlichen Gruppierungen zufolge durch den Einsatz von Chlorgas mindestens 42 Menschen ums Leben. Mehrere Hundert Menschen werden verletzt.

25. Februar: In dem von Rebellen gehaltenen Ort Al Shifonia in Ost-Ghouta werden durch den Einsatz von Chlorgas zwei Kinder getötet. 18 Personen wurden verletzt, wie die lokale Gesundheitsbehörde mitteilte.

4. Februar: In dem von Rebellen gehaltenen Ort Sarakeb in der nördlichen Provinz Idlib werden mindestens zwölf Menschen verletzt, nachdem sie Chlorgas eingeatmet haben. Augenzeugen zufolge war zuvor von einem Hubschrauber eine Fassbombe auf den Ort abgeworfen worden.

1. Februar: In einem Krankenhaus im Osten von Ghouta - unweit der Hauptstadt Damaskus - werden laut Bericht der syrisch-amerikanischen Ärzteorganisation SAMS drei Patienten mit Erstickungsanfall eingeliefert. Die festgestellten Symptome wie Atemnot, trockener Husten und Brechreiz decken sich mit den typischen Folgen eines Chlorgasangriffs. Augenzeugen zufolge waren drei Raketen mit Chlorgas auf einen Vorort der Stadt Duma abgefeuert worden.

22. Januar: In Duma, in der Nähe der Hauptstadt Damaskus, werden Angaben von Hilfsorganisationen und Aufständischen zufolge nach einem mutmaßlichen Chlorgasangriff mindestens 13 Personen mit Erstickungsanfällen behandelt. SAMS spricht von 21 Verletzten, darunter sechs Frauen und sechs Kinder.

22. Januar: In Idlib in der gleichnamigen nördlichen Provinz werden Helfern zufolge vier Patienten mit Chlorgas-typischen Symptomen in ein Krankenhaus eingeliefert.

13. Januar: In Duma werden sechs Personen mit Erstickungsanfällen ins Krankenhaus eingeliefert. Augenzeugen zufolge waren zuvor drei Boden-Boden-Raketen auf die Region abgefeuert worden. Andere Augenzeugen sprachen von "acht Bomben". Der Geruch von Chlorgas sei in der gesamten Stadt Duma zu riechen gewesen.