AfD zu Kriminalität an Bahnhöfen "Berechtigte Angst" oder Stimmungsmache?
Die AfD behauptet, Bürger könnten "nur noch mit berechtigter Angst zur Arbeit fahren oder auf Reisen gehen". Anlass sind Zahlen zur Kriminalität an Bahnhöfen, die im Kontext betrachtet allerdings wenig alarmierend wirken.
Verschiedene Medien berichten heute über eine Antwort der Bundesregierung auf eine AfD-Anfrage zur Kriminalität an Bahnhöfen. Diese Berichte beziehen sich auf eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa. Darin heißt es:
Bei Gewaltdelikten lag der Hamburger Hauptbahnhof im vergangenen Halbjahr deutschlandweit vorn: Insgesamt 300 Fälle verzeichneten die Behörden dort zwischen Juli und Dezember 2020. Das gehe aus einer Auskunft des Bundesinnenministeriums an die AfD-Fraktion hervor, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Hinter dem Hamburger Bahnhof liegen der Frankfurter Hauptbahnhof mit 238 und der Nürnberger Hauptbahnhof mit 189 Gewaltdelikten.
Bei Eigentumsdelikten wie Diebstahl führte der Frankfurter Hauptbahnhof die Negativ-Statistik mit 744 Vorfällen im zweiten Halbjahr 2020 an, gefolgt wiederum von Hamburg (572 Taten) und Köln (504 Taten).
Zudem seien insgesamt 198 Bundespolizisten im zweiten Halbjahr 2020 im Dienst bei gewaltsamen Auseinandersetzungen in Bahnhöfen oder Zügen verletzt worden.
"Die Gewalt an deutschen Bahnhöfen betrifft nicht nur die Metropolen, sondern praktisch jeden größeren Bahnhof", erklärte der AfD-Abgeordnete Martin Hess laut dpa. Es dürfe nicht sein, "dass Bürger nur noch mit berechtigter Angst zur Arbeit fahren oder auf Reisen gehen können".
Nur noch mit Angst?
Müssen Pendler und Reisende also Angst haben, wenn sie zur Arbeit oder in den Urlaub fahren? Seit 2012 werden entsprechende Daten erhoben, wie aus Antworten der Regierung hervorgeht. So hatte die FDP-Fraktion Ende Februar 2020 eine Antwort der Regierung mit entsprechenden Zahlen erhalten, die sich auf den Zeitraum von 2012 bis 2019 beziehen. Daraus ergibt sich folgende Entwicklung:
- Die Zahl der Verdachtsfälle von Körperverletzung an Bahnhöfen lag 2012 bei 11.064 Fällen, 2018 bei 11.308 und 2019 waren es 9262 Fälle (möglicherweise gab es hier noch Nachmeldungen).
- Die Zahl der registrierten Verdachtsfälle von Körperverletzung in Zügen lag 2012 bei 2630 Fällen, 2018 bei gut 3000 und 2019 bei knapp 2300.
- Die Zahl der Sachbeschädigungen an Zügen ging von 2012 bis 2019 deutlich zurück - von gut 37.000 auf 25.386 Delikten.
- Die Zahl der Eigentumsdelikte an Bahnhöfen sank von fast 40.000 im Jahr 2012 auf zuletzt unter 30.000
- Stark zugenommen haben während des Flüchtlingsandrangs die "ausländerrechtlichen" Delikte sowohl auf Bahnhöfen als auch in Zügen. Dazu zählen fehlende Aufenthaltspapiere. Wurden 2012 gut 11.000 solcher Fälle in Zügen gezählt, waren es 2015 mehr als das zehnfache. Seitdem sinken die Zahlen wieder deutlich; auf Bahnhöfen liegen sie aber weiterhin über dem Niveau von 2012.
- Die Zahl der im Einsatz verletzten Bundespolizistinnen und Polizisten auf Bahnhöfen und in Zügen stieg von 413 im Jahr 2012 auf 497 im Jahr 2019. Im zweiten Halbjahr 2020 waren es laut der Antwort auf die AfD-Anfrage 198 Fälle, also auf das Gesamtjahr gerechnet deutlich weniger, was mit den gesunkenen Fahrgastzahlen erklärt werden könnte. 35 der 198 Betroffenen waren zunächst dienstunfähig.
Grundsätzlich muss bei den Zahlen beachtet werden, dass es sich um Daten der Bundespolizei aus der Polizeilichen Eingangsstatistik (PES) handelt; das heißt, es werden Verdachtsfälle abgebildet und nicht tatsächlich bestätigte Delikte. Die weiteren Ermittlungsergebnisse sind nicht berücksichtigt. Allerdings lassen sich zumindest Tendenzen daraus ablesen, wenn die Kriterien und Definitionen gleich bleiben.
20 Millionen Menschen täglich
Während die Zahl der meisten Verdachtsfälle also nicht gestiegen ist, wuchs die Zahl der Passagiere in diesem Zeitraum. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts beförderte die Eisenbahn 2018 etwa 200 Millionen Personen mehr als im Jahr 2012. Zudem gibt es in Deutschland rund 5700 Bahnhöfe, auf denen nach Angaben der Bahn täglich rund 20 Millionen Menschen unterwegs sind. Allein am Hamburger Hauptbahnhof sind demnach täglich rund 550.000 Passagiere und Besucher unterwegs.
Dass Hamburg der Bahnhof mit den meisten Verdachtsfällen bei Gewaltdelikten ist, erscheint somit wenig überraschend, denn es ist auch der deutschlandweit meist frequentierte Bahnhof. Auf ein halbes Jahr hochgerechnet sind am Hamburger Hauptbahnhof somit fast 100 Millionen Menschen unterwegs - und in diesem Zeitraum wurden 300 Verdachtsfälle von Körperverletzung registriert. Eine Sprecherin der Bahn teilte auf Anfrage des ARD-faktenfinder zudem mit, bei den meisten aufgeführten Verdachtsfällen handele es sich nicht um schwere Körperverletzung, sondern um leichtere Delikte - wie beispielsweise Anspucken. Sie betonte, solche Vorfälle dürften nicht verharmlost werden, dennoch gebe es Unterschiede zwischen den Fällen, die in polizeilichen Statistiken als Körperverletzung erfasst werden.
Positive Rückmeldungen
Die Bahn-Sprecherin sagte im Gespräch, das Unternehmen befrage "Reisende und Bahnhofsbesucher regelmäßig, wie sie unsere Bahnhöfe wahrnehmen". Die Zufriedenheit der Kunden mit der Sicherheit an Bahnhöfen habe sich im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr leicht verbessert und wird mit der Schulnote "gut" bewertet, sagte die Sprecherin. Die Stichprobengröße seien 40.000 Kunden jährlich.
Karl Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn sagte auf Anfrage des ARD-faktenfinder, ihm lägen zwar keine quantitativen Untersuchungen vor, aber die Rückmeldungen von Reisenden gingen eher in die Richtung, dass das subjektive Sicherheitsgefühl besser werde. Dies habe vor allem drei Gründe, erklärte Naumann: Die Security-Mitarbeiter seien mittlerweile besser ausgebildet und würden professionell auftreten, sie seien durch Warnwesten besser sichtbar und erhöhten so das Sicherheitsgefühl - und außerdem wirke sich die Modernisierung von jetzt helleren und freundlicheren Bahnhöfen positiv aus.
Einfach, aber effektiv: Warnwesten erhöhen das Sicherheitsempfinden von Passagieren, sagt Karl Naumann von Pro Bahn.
Kontext beachten
Setzt man also die Zahl der Verdachtsfälle in Relation zur Zahl der Menschen, die täglich in Zügen und auf Bahnhöfen unterwegs sind - und berücksichtigt die Entwicklung der vergangenen Jahre, stellt sich die Beurteilung der Sicherheit an Bahnhöfen womöglich deutlich anders da, als wenn die Angaben zur Kriminalität allein betrachtet werden. Dass die Reisenden in Deutschland generell "nur noch mit berechtigter Angst" reisen könnten, so wie die AfD es behauptet, erscheint im Kontext betrachtet eine deutlich übertriebene Interpretation zu sein.