Teilnehmer einer Demonstration in München.
interview

Demonstrationen gegen rechts "Fast jeder kennt jemanden, der bei Protesten war"

Stand: 22.01.2024 19:47 Uhr

Die Massendemonstrationen gegen die AfD sind ein starkes Zeichen der gesellschaftlichen Mitte, sagt die Extremismusforscherin Julia Ebner. Es gebe zwei Möglichkeiten dafür, wie die Proteste langfristig wirken.

tagesschau.de: Können die derzeitigen Massenproteste in Deutschland aus Ihrer Sicht der Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft etwas entgegensetzen?

Julia Ebner: Es kann auf jeden Fall dazu beitragen, dass mehr Menschen sich fragen, was eigentlich auf dem Spiel steht und wie ernst die Lage ist. Mit einer Partei wie der AfD, die so starke Umfragewerte hat - was das am Ende des Tages bedeuten würde, wenn die AfD tatsächlich stimmenstärkste Partei wäre oder in der Regierung säße. Das kann auf jeden Fall zu einer Bewusstseinsschaffung beitragen.

tagesschau.de: Denken Sie, dass sich dadurch mehr Menschen mit den Inhalten der AfD auseinandersetzen?

Ebner: Ja, ich denke, es kann einen Effekt haben, der dazu beiträgt, dass mehr Menschen sich tiefergehend damit befassen, was für langjährige Verbindungen es zwischen AfD und neurechten Organisationen und auch rechtsextremem Gedankengut gibt. Dass sie dieses Thema auch ernster nehmen und es nicht verharmlosen.

Julia Ebner
Zur Person

Julia Ebner forscht an der Universität Oxford und am Institut für Strategischen Dialog zu Rechtsextremismus, Online-Radikalisierung und europäische Initiativen zur Terrorismusprävention. Sie berät parlamentarische Arbeitsgruppen, Sicherheitsbehörden und Technologieunternehmen und hält Workshops an Schulen und Universitäten ab.

tagesschau.de: Seit langem ist bekannt, dass die AfD zumindest in Teilen rechtsextrem ist. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wird die Partei vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem beobachtet. Was hat die Recherche von "Correctiv" zum Treffen unter anderem von Rechtsextremen und einzelnen AfD-Mitgliedern in Potsdam verändert?

Ebner: Das hat noch einmal sehr stark aufgezeigt, dass dieses extreme Gedankengut bis zur Spitze der AfD reicht, dass hier wirklich hochrangige politische Figuren präsent waren und dass es so klar um ein im Kern extremistisches und rassistisches Konzept ging, nämlich das der "Remigration". Das hat schon noch einmal vielen Menschen gezeigt, wie extrem generell das Gedankengut ist, für das die AfD steht.

tagesschau.de: Könnte damit die Stimmung nachhaltig gegen die AfD kippen?

Ebner: Das ist eine gute Frage. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie es jetzt im weiteren Verlauf aussehen wird. Entweder kippt die Stimmung gegen die AfD.

Es könnte aber auch der gegensätzliche Effekt eintreten. Eventuell könnte es zu einer stärkeren Radikalisierung von AfD-Wählern und AfD-Sympathisanten kommen, wenn die Partei es erfolgreich schafft, ihre Opferrolle wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Es kann in beide Richtungen gehen. Aber es ist auf jeden Fall jetzt mit diesen bundesweiten Protesten ein Höhepunkt der gesellschaftlichen Polarisierung zu sehen.

"Die altbekannte Trump-Methode"

tagesschau.de: Jetzt versucht die AfD, genau dieses Narrativ zu bedienen, indem sie zum Beispiel verbreitet, die Bilder von den Demonstrationen seien Fälschungen. Kann so eine Strategie Erfolg haben?

Ebner: Leider ja. Das ist genau das, was zum Beispiel Donald Trump sehr viel Erfolg gebracht hat. Es ist die altbekannte Trump-Methode, solche Ereignisse zu nutzen, um Misstrauen in die Berichterstattung der Medien zu schüren und eine weitere Opferrolle aufzubauen. Und das kann am Ende des Tages der AfD weiterhelfen.

Man sieht jetzt schon, dass sie versuchen, diese Strategie zu verfolgen, weil es in Wirklichkeit ihr einziger Ausweg ist. Sie wollen ja die Partei des Volkes sein und deswegen müssen sie die Größe und auch die Relevanz der Proteste abstreiten. Und das mit unterschiedlichsten Methoden. Entweder auf eine angebliche Manipulation von Fotos aus Hamburg, Köln und anderen Städten hinweisen oder behaupten, dass die Fotos KI-generiert seien.

Da sieht man, dass es sehr ähnliche Methoden sind wie die, die wir auch schon bei Trump und anderen Rechtspopulisten sehen konnten. Oder bei Wladimir Putin, der auch diese Methode verwendet, um alles in Frage zu stellen.

"Wir haben einen Multiplikatoreffekt"

tagesschau.de: Welche Schritte bräuchte es jenseits der Demonstrationen, um dieser Radikalisierung entgegenzutreten?

Ebner: Wahrscheinlich wird unterschätzt, wie stark jeder Einzelne einen Einfluss auf das persönliche Umfeld haben kann. Ich hoffe, dass jetzt eine Art Kettenreaktion entsteht bei denen, die sich sehr klar gegen die AfD positionieren, die ihr Unbehagen und ihre Angst vor einer möglichen Regierungsübernahme durch die AfD äußern und das auch bei den Protesten zeigen.

In einem weiteren Schritt ist es wichtig, das auch im persönlichen Umfeld zu verbreiten. Dass auch die Menschen, die sich vielleicht in einer Position befinden, in der sie sich vorstellen könnten, die AfD zu wählen, noch einmal fragen, ob das wirklich eine gute Idee ist.

tagesschau.de: Müssen sich diejenigen, die sich jetzt so klar positionieren und auf die Demonstrationen gehen, noch besser über die Ziele und die politischen Vorgehensweisen der AfD informieren?

Ebner: Ich denke, dass wir an einem Punkt sind, an dem wir einen Multiplikatoreffekt haben. Dass fast jeder jemanden im eigenen persönlichen Umfeld kennt, der bei den Protesten war. Dadurch, dass es wirklich Hunderttausende Menschen gab, die in unterschiedlichsten Gegenden nicht nur in den großen Städten, sondern auch in Ostdeutschland, teilweise auch in ländlichen Regionen auf die Straße gegangen sind.

Da gibt es einen enormen Effekt, der hier erzeugt werden kann, wenn diese Menschen sich zusätzlich im privaten Umfeld mit Freunden und Bekannten darüber austauschen, was sie motiviert hat, auf die Straße zu gehen.

"Das waren nicht nur Aktivisten"

tagesschau.de: Wie ist Ihre Sicht auf das Superwahljahr 2024? Die US-Präsidentschaftswahl, die Europawahl, Landtagswahlen in Ostdeutschland - haben Sie da noch Hoffnung?

Ebner: Es wird ein enorm wichtiges, politisch strategisches Wahljahr. Für viele Länder, sowohl für Europa als auch für die USA steht sehr viel auf dem Spiel. Ich vermute, dass sich die Polarisierung in den nächsten Monaten im Wahlkampf zuspitzt und dass Parteien versuchen, die jetzt schon vorhandenen gesellschaftlichen Spannungen noch mehr für ihre Kampagnen zu instrumentalisieren.

Gerade das Abstreiten der Wahrheit und das Verbreiten von falschen Informationen wird sicher eine Taktik sein, die auf einer neuen Ebene stattfinden wird. Auch mit den neuen KI-basierten Technologien, die es bei den vergangenen strategisch wichtigen Wahlen noch nicht gab.

tagesschau.de: Gibt es vielleicht trotzdem etwas, das Ihnen noch Hoffnung macht?

Ebner: Die Demonstrationen sind auf jeden Fall ein sehr starkes gesellschaftliches Zeichen, dass sich die gesellschaftliche Mitte zusammentut. Bei diesen Hunderttausenden Protestierenden am Wochenende in Deutschland war eine Koalition von Menschen zu sehen, sowohl Bürgerliche und Konservative als auch Liberale und Linke. Das waren nicht nur Aktivisten, sondern auch einfach Bürger. Das macht mir Hoffnung, dass es hier ein ganz klares gesamtgesellschaftliches Zeichen gegen Hass, gegen Rassismus und gegen Demokratiefeindlichkeit gibt.

Das Gespräch führte Belinda Grasnick, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 22. Januar 2024 um 20:00 Uhr.