Beschluss zur Corona-Impfpflicht "In die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen"
Schon während der Pandemie gab es Kritik an der einrichtungsbezogenen Impfpflicht. Ein Gericht kommt nun zum Ergebnis: Die Regelung sei im Laufe des Jahres 2022 verfassungswidrig geworden. Der Beschluss liegt dem ARD-Hauptstadtstudio vor.
Es ist März 2022, als eine Pflegehelferin aus Niedersachsen Post erhält. Die Ampelkoalition hat gerade die einrichtungsbezogene Impfpflicht eingeführt. Ihr Arbeitgeber, ein Krankenhaus, fordert die Pflegekraft auf, einen Nachweis über eine Corona-Impfung vorzulegen. Dieser Aufforderung kommt sie nicht nach.
Der Landkreis Osnabrück spricht daraufhin einige Monate später ein Betretungs- und Tätigkeitsverbot aus. Vom 7. November 2022 an darf die Pflegekraft ihren Beruf acht Wochen lang nicht mehr ausüben. Kurz bevor die Regelung zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht Ende 2022 ohnehin ausgelaufen ist.
War die Impfpflicht gerechtfertigt?
Die Impfung gegen das Coronavirus hat viele Menschenleben gerettet. Aber war die einrichtungsbezogene Impfpflicht wirklich gerechtfertigt? In jedem Fall ist sie ein Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und die Berufsfreiheit.
Die Pflegehelferin hat dagegen im Dezember 2022 beim Verwaltungsgericht Osnabrück geklagt. Das Verwaltungsgericht kommt nun zum Ergebnis, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht erneut vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden muss. Der schriftliche Beschluss liegt dem ARD-Hauptstadtstudio vor.
Die Kammer in Osnabrück führt darin aus, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht "im Jahr 2022 in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen" sei, "ohne dass der Gesetzgeber hierauf reagiert" habe. Eine entscheidende Rolle spielt dabei, wie hoch der Schutz anderer durch die Impfung gegen Corona tatsächlich war.
Das Gericht zitiert dabei auch verschiedene Passagen aus den öffentlich gewordenen Protokollen des Robert Koch-Instituts (RKI). Zum Beispiel im Januar 2021, als über die genaue Wirkung der Impfung noch nicht viel bekannt war. Am 8. Januar 2021 steht darin etwa zur Evidenzlage: "Impfstoffwirkung ist noch nicht bekannt" und "Dauer des Schutzes ist ebenfalls unbekannt".
Kein ausreichender Schutz?
Im Protokoll vom 27. August 2021 geht man im RKI von einer Fremdschutzwirkung von etwa 60 bis 70 Prozent durch die Impfung aus. Das Gericht zitiert aber auch aus einer Passage vom Oktober 2022. Darin diskutieren die Mitarbeiter des RKI über die Schutzwirkung. Eine Person merkt an: "Aus Altenheim-Ausbrüchen (…) weiß man, dass Wirkung der Impfung eher überschätzt wird. Schwieriges Thema, sollte nicht im Impfbericht formuliert werden."
Im Nachhinein ist es nicht einfach, jede der einzelnen Aussagen in den Protokollen, bei denen es sich zum Teil um einzelne Wortmeldungen von RKI-Mitarbeitern handelt, nachzuvollziehen und in den richtigen Kontext zu stellen.
Das Verwaltungsgericht Osnabrück kommt aber zum Ergebnis: Den Ausführungen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des RKI "im Rahmen ihrer Besprechungen getätigt und dokumentiert haben, lässt sich zur Überzeugung der Kammer eindrucksvoll und zweifelsfrei entnehmen, dass die seitens der Bundesregierung suggerierte und auch vom Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegte Annahme, dass die Impfungen in jedem Fall einen wirksamen Fremdschutz darstellten, tatsächlich falsch war".
Aus Sicht der Kammer wusste das RKI also, dass die Impfung andere nicht ausreichend schützt. Zumindest im Verlauf des Jahres 2022. Damit seien die Grundrechtseingriffe nicht gerechtfertigt gewesen.
Gericht: RKI hätte Einschätzung korrigieren müssen
Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat hierzu auch den aktuellen Präsidenten des RKI, Lars Schaade, befragt. Er war während der Pandemie Leiter des Krisenstabs des Instituts. Schaade verwies auf einen "geringen Aussagegehalt der Protokolle".
Laut Beschluss der Kammer hat der RKI-Präsident aber eingeräumt, "dass insbesondere die im Verlauf des Jahres 2022 vorherrschende Omikron-Variante den Schutz der Impfung weiter reduziert habe. Studien aus dem Jahre 2022 seien durchweg zu dem Ergebnis gekommen, dass unabhängig von der Variante die Übertragungswahrscheinlichkeit durch aufgefrischt geimpfte Personen um rund 20 Prozent niedriger gewesen sei als diejenige von ungeimpften Personen."
Am Ende dürfte also die Frage entscheidend sein, ob es tatsächlich einen signifikanten Fremdschutz durch die Impfung gab. Und inwiefern sich das im Verlauf der Pandemie geändert hat. Aus Sicht der Kammer in Osnabrück hätte das RKI die Einschätzung hierzu gegenüber der Bundesregierung korrigieren müssen. Die Bundesregierung hätte daraufhin reagieren müssen, weil die einrichtungsbezogene Impfpflicht damit verfassungswidrig geworden sei.
Akte geht zum Bundesverfassungsgericht
Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios hat das Verwaltungsgericht Osnabrück den Beschluss inzwischen an das Bundesverfassungsgericht übersandt. Die komplette Akte geht diese Woche per Post nach Karlsruhe. Nun liegt der Ball also beim Bundesverfassungsgericht. Es kann sich dafür oder dagegen entscheiden, noch einmal zu überprüfen, ob die einrichtungsbezogene Impfpflicht verfassungskonform war. 2022 hatte Karlsruhe entschieden, dass die Impfpflicht für Pflegekräfte rechtens war.
Die Rechtswissenschaftlerin Frauke Rostalski hält es für wichtig, dass das oberste Gericht sich noch einmal mit der Sache befasst. Sie ist Mitglied im Deutschen Ethikrat. Sie sagt: "Die einrichtungsbezogene Impfpflicht stand nach meiner juristischen Einschätzung schon zum damaligen Zeitpunkt auf wackeligen Beinen."
Pflegerinnen und Pfleger seien während der gesamten Pandemie sehr solidarisch gewesen. Sie hätten durch ihren Arbeitseinsatz unheimlich viel getan für den Rest der Bevölkerung. "Und dann mussten sie aber noch diesen zusätzlichen massiven Freiheitseingriff hinnehmen, obwohl Teile von ihnen das eben nicht wollten." Sie habe das als "große Ungerechtigkeit" empfunden, sagt Rostalski.