Demonstrierende vor einem Rammstein-Konzert in Bern.
interview

Nach Diskussion um Rammstein Wo Machtmissbrauch beginnt

Stand: 21.06.2023 12:52 Uhr

In der Diskussion um Rammstein-Sänger Lindemann geht es um Vorwürfe von Machtmissbrauch. Wie sich Macht auf Beziehungen auswirkt und ab wann eine Situation strafrechtlich relevant wird, erklärt Strafrechtlerin Kämpfer im Interview.

tagesschau.de: Gibt es eine allgemein gültige Definition von Machtmissbrauch?

Simone Kämpfer: Nein, der Begriff wird sehr unterschiedlich verwendet. Unternehmen definieren ihn häufig in etwa so: Machtmissbrauch liegt vor, wenn in einem Über-Unterordnungsverhältnis eine Beziehung eingegangen wurde und es wegen dieser Beziehung zu beruflichen Vor- oder Nachteilen gekommen ist.

Der Begriff "Machtmissbrauch" spielt im Strafrecht so keine Rolle. Und in den allermeisten Fällen ist das, was mit Machtmissbrauch gemeint ist, auch kein Fall für die Staatsanwaltschaft.

Simone Kämpfer
Zur Person
Simone Kämpfer ist Fachanwältin für Strafrecht und Partnerin in der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer. Sie war außerdem neun Jahre als Staatsanwältin tätig.

Kämpfer hat unter anderem im Auftrag von Ernst & Young den Fall Wirecard sowie für den Axel Springer Verlag die #MeToo-Vorwürfe gegen den ehemaligen "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt untersucht. Sie ist für den Verlag sowie für weitere Unternehmen auch als Vertrauensanwältin tätig.

"Ist das strafrechtlich relevant?"

tagesschau.de: Was verstehen Sie in diesem Zusammenhang unter Macht?

Kämpfer: Macht kann man definieren als die qualifizierte Überlegenheit eines Menschen über einen anderen. Das kommt in menschlichen Beziehungen ja sehr häufig vor. Oft ist jemand einflussreicher, klüger, wohlhabender oder schöner als der andere. Und möglicherweise gibt ihm das auch Macht über den anderen. Grundsätzlich steht es natürlich jedem frei, sich in sexuelle Beziehungen mit Machtgefälle zu begeben.

tagesschau.de: Welchen Fragen gehen Sie in Ihrer Arbeit nach, wenn Sie Machtmissbrauch im #MeToo-Zusammenhang untersuchen?

Kämpfer: Wir werden häufig als externe Kanzlei gebeten, eine unabhängige Ermittlung zu bestimmten Geschehen durchzuführen - immer häufiger auch im #MeToo-Kontext. Zunächst einmal ermitteln wir, was eigentlich passiert ist. Je nach Auftrag ist danach die erste Frage: Ist das strafrechtlich relevant? Zweitens: Gibt es Regeln innerhalb eines Unternehmens, einer Behörde oder arbeitsrechtliche Regeln, gegen die verstoßen wurde? Und drittens, wenn nein: War das Verhalten trotzdem nicht okay und bietet der Vorfall Anlass, unternehmensinterne Regeln anzupassen? Wir fassen dann unsere Erkenntnisse und unsere rechtliche Bewertung in einem Abschlussbericht zusammen.

"Strafbar, eine solche Lage auszunutzen"

tagesschau.de: Was ist im Bereich von #MeToo-Vorwürfen strafbar?

Kämpfer: Im Wesentlichen kann Strafbarkeit in zwei Bereichen vorliegen: Strafrechtlich relevant kann es sein, wenn die Macht in einer Beziehung so ungleich verteilt ist, dass man sich fragen muss, ob der Unterlegene überhaupt einen freien Willen bilden kann. Dann kann eine sexuelle Beziehung per se strafbar sein, beispielsweise zwischen Gefängnispersonal und Gefangenen.

Abseits dieser besonderen Fälle können sexuelle Handlungen dann strafbar sein, wenn sich der eine gegen sexuelle Handlungen entschieden hat und dieser Wille auch nach außen erkennbar geworden ist. Das gilt allerdings überall, ist also vollkommen unabhängig davon, ob in der Beziehung ein Machtgefälle vorlag oder nicht.

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tagesschau.de: Was ist, wenn Personen ihren Willen gar nicht mehr äußern können, weil sie beispielsweise nicht mehr bei Bewusstsein sind und ihnen zuvor ungefragt Substanzen wie K.O.-Tropfen verabreicht wurden?

Kämpfer: Es ist selbstverständlich strafbar, eine solche Lage auszunutzen - es sei denn, dies war vorher genauso abgesprochen.

tagesschau.de: Gilt das nur für das unfreiwillige Geben etwa von K.O.-Tropfen - oder auch für Menschen im betrunkenen Zustand?

Kämpfer: Wenn jemand so betrunken ist, dass er bewusstlos ist, gilt genau das Gleiche. Wenn jemand noch bei Bewusstsein, aber schwer betrunken oder aufgrund von Drogen in seiner Willensbildung erheblich eingeschränkt ist, gilt: Der andere kann sich strafbar machen, wenn er diesen Zustand ausnutzt, ohne sich vorher der Zustimmung der beeinträchtigten Person versichert zu haben.

"Strafrecht ist ultima ratio"

tagesschau.de: In Spanien gilt auch als Vergewaltigung, wenn jemand sexuelle Handlungen aus Angst über sich ergehen lässt. In Deutschland ist Voraussetzung, dass sich jemand verbal oder physisch wehrt.

Kämpfer: Nicht ganz. Wenn jemand lediglich aus Angst das Nein nicht ausspricht, sein Nein aber deutlich zu erkennen ist, ist das natürlich auch strafbar. In bedrohlichen Extremsituationen - also etwa, wenn das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert ist und mit Gewalt rechnen muss, wenn es protestiert - kann Strafbarkeit auch bei komplett fehlendem Nein vorliegen. Gleiches kann gelten für Fälle, in denen ein sogenanntes "empfindliches Übel" - zum Beispiel die Kündigung des Jobs - angedroht wird.

tagesschau.de: Bei den Vorwürfen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann werden Situationen beschrieben, in denen junge Frauen etwa das Handy abgeben sollten, Sicherheitspersonal Türen bewacht haben soll und junge Frauen mit der Überfigur Lindemann allein gewesen sein sollen. Ist es nicht zu viel verlangt, in solchen Situationen ein klares Nein auszusprechen?

Kämpfer: Zum Fall Rammstein äußere ich mich nicht. Aber wie schon gesagt: In bestimmten bedrohlichen Extremsituationen kann Strafbarkeit auch bei komplett fehlendem Nein vorliegen. In solchen Situationen muss ein entgegenstehender Wille nicht geäußert werden.

Es gilt aber auch: Strafrecht ist ultima ratio. Für sexuelle Handlungen in diesem Bereich können Sie für fünf Jahre ins Gefängnis gehen. Ein diffuses Gefühl der Überforderung mit der Situation des einen kann nicht allein zu einer Strafbarkeit des anderen führen. Und wie sollte eine solche Grenze des Erlaubten in ein Gesetz gegossen werden?

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tagesschau.de: In sozialen Netzwerken wird im Fall Rammstein diskutiert, ob Betroffene "selbst schuld" sind, wenn sie aktiv mit in einen Backstage-Bereich gehen. Ist es für die strafrechtliche Bewertung relevant, wenn jemand eine solche Initiative an den Tag legt?

Kämpfer: Ganz abstrakt gilt: Die Frage der Initiative spielt für die strafrechtliche Bewertung überhaupt keine Rolle. Wer die Initiative für einen Kuss ergreift, darf danach jederzeit weitergehenden Handlungen widersprechen. Und das ist dann auch zu respektieren.

"Komplexe Fragen"

tagesschau.de: Spielt die Frage der Initiative für sexuelle Beziehungen außerhalb des Strafrechts, beispielsweise im Kontext von Unternehmen, eine Rolle?

Kämpfer: Die Frage, wie eine Situation begonnen hat, kann eine Rolle spielen. Ob es zu Machtmissbrauch gekommen ist, hängt aber grundsätzlich nicht davon ab, wer die Initiative ergriffen hat. Hier spielt das Arbeitsrecht eine große Rolle. Das sind komplexe Fragen.

tagesschau.de: Betroffene sehen zuweilen von einer Anzeige ab, da sie wenig Chancen auf Erfolg sehen, wenn Aussage gegen Aussage steht. Ist das gerechtfertigt?

Kämpfer: Nicht unbedingt. Natürlich stehen die Chancen besser, wenn es objektive Beweismittel gibt - etwa ein Video oder die Ergebnisse einer medizinischen Untersuchung, die direkt nach der Tat erfolgt ist. Die gibt es nur häufig nicht. Die Gerichte entscheiden aber auf Grundlage der sogenannten freien Beweiswürdigung. Wenn neun von zehn Zeugen sagen, die Ampel war grün, und ein Zeuge sagt, die Ampel war rot, können Richter allein auf Grundlage des einen Zeugen urteilen, wenn sie ihn für glaubwürdig halten.

"Die Unschuldsvermutung muss gewahrt werden"

tagesschau.de: Aber ist diese Person nicht selten das mutmaßliche Opfer?

Kämpfer: Das herauszufinden ist ja gerade die Schwierigkeit. Es ist aber jedenfalls ein weit verbreiteter Irrtum, dass es in jeder Aussage-gegen-Aussage Konstellation "im Zweifel für den Angeklagten" automatisch zu einem Freispruch kommt. Die Verantwortung, die Richter hier tragen, wiegt schwer.

Die Vorstellung ist unerträglich, dass einem Missbrauchsopfer nicht geglaubt wird. Ebenso unerträglich ist die Vorstellung, dass einer unzutreffenden Anschuldigung, die es eben leider auch gibt, geglaubt wird.

tagesschau.de: Wie blicken Sie auf die Rolle der Medien im Zusammenhang mit der Berichterstattung über #MeToo-Vorwürfe?

Kämpfer: Natürlich ist es unabdingbar, dass Vorwürfe öffentlich geäußert werden dürfen und ernst genommen werden. Aber es muss natürlich trotzdem die Unschuldsvermutung gewahrt bleiben. Hier sehe ich durchaus Verbesserungsbedarf. Die Unschuldsvermutung scheint nämlich in den Köpfen vieler Menschen wenig verankert zu sein. Und ehrlich gesagt helfen da auch die üblichen Disclaimer am Ende eines Beitrags oft sehr wenig. Die werden nämlich ähnlich ernst genommen wie der Hinweis bei Medikamenten auf Risiken und Nebenwirkungen.

Das Gespräch führte Stefanie Dodt für tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 07. Juni 2023 um 22:15 Uhr.