Triage in der Pflege? Heimleiter und Fachleute schlagen Alarm
Viele ältere Patienten belegen Klinikbetten. Für sie kann nicht rechtzeitig eine Anschlussversorgung gefunden werden. Viele Pflegeheime nehmen schwierige Patienten nicht mehr auf. Experten sprechen von Triage.
Mandy Klingsporn ist im Dauerstress. Sie arbeitet als Sozialdienstmitarbeiterin im Agaplesion Bethesda Krankenhaus in Hamburg-Bergedorf. Sie muss die Entlassung auch von schwer pflegebedürftigen Patientinnen und Patienten koordinieren. Im Treppenhaus klingelt ihr Telefon. Wieder sagt ein Pflegeheim ab.
Vor allem ein 64-jähriger Patient beschäftigt Klingsporn seit Wochen. Nach überstandener Lungenentzündung ist er eigentlich ein Fall fürs Pflegeheim und gehört nicht mehr ins Krankenhaus. Er war mal Alkoholiker, ist jetzt aber trocken. Seine Angehörigen kümmern sich nicht um ihn. Sie habe alle Heime, sogar weiter entfernte, abtelefoniert, erzählt Klingsporn im Interview mit Report Mainz. 170 Anfragen an Heime habe sie allein für ihn verschickt und konnte ihn doch nicht vermitteln. Insgesamt 30 solcher Patienten hat Mandy Klingsporn momentan auf ihrer so genannten "Langliegerliste".
Das ist nicht nur in Hamburg ein Problem. Obwohl keine medizinische Notwendigkeit mehr besteht, belegen ältere Patientinnen und Patienten bundesweit Betten in Krankenhäusern. Das hat eine nicht repräsentative Report-Mainz-Umfrage ergeben. Bislang haben 330 von rund 1600 angefragten Kliniken geantwortet, fast 88 Prozent davon bestätigen: Patientinnen und Patienten mussten in den vergangenen zwölf Monaten länger als zehn Tage über die medizinische Notwendigkeit hinaus in Kliniken bleiben. Für sie konnte nicht rechtzeitig eine Anschlussversorgung, zum Beispiel in einem Pflegeheim, gefunden werden.
Heime nehmen schwierige Krankenhauspatienten nicht auf
In der "Pro Seniore"-Einrichtung in Cochem an der Mosel hätte Residenzdirektorin Margarete Vehrs zwar viel Platz für weitere Bewohnerinnen und Bewohner, ihr fehlt aber das Personal, um diese zu versorgen. Derzeit sind 20 von 70 Betten nicht belegt. Sie müsse, erzählt sie uns, ein gutes Gleichgewicht finden, "damit die Mitarbeiter nicht überlastet sind, aber auch die Bewohner gut versorgt sind".
In der Nacht ist eine Bewohnerin verstorben. Das heißt: Es gibt auch wieder einen freien Pflegeheimplatz. Und den wollen viele. Margarete Vehrs hat an diesem Morgen elf Anfragen von Krankenhäusern aus Nah und Fern auf dem Tisch. Aufgrund des Personalmangels hat sie mittlerweile klare Auswahlkriterien. "Ich schaue nach, welcher Bewohner am wenigsten aufwändig ist, maximal Pflegegrad 2 - schwierige Bewohner oder Pflegegrad 4 momentan keine Aufnahme".
Es dauert nicht lange, bis sie die Krankenhausanfragen geprüft hat. Am Ende fällt ihr die Entscheidung leicht. Eine Frau darf kommen. "Kein aufwendiger Fall. Pflegegrad 2, ist noch orientiert. Kann noch vieles selbst und selbständig durchführen", sagt Vehrs gegenüber Report Mainz. Das seien die Bewohner, die die Mitarbeiter gerne hätten.
Margarete Vehrs spricht von einem traurigen Zustand.
Altersforscherin: "Das ist auf jeden Fall eine Pflege-Triage"
Vehrs ist nachdenklich. "Wir haben nie aussortieren müssen, welcher Bewohner oder welcher Patient aufgenommen wird oder nicht. Das ist schon sehr, sehr traurig", sagt sie. Auf die Frage, ob sie von Pflege-Triage reden würde, antwortet sie: "Das ist eine gute Frage. Das ist knallhart ausgedrückt. Aber es kommt dem nicht wenig nah. Ich muss auswählen."
Triage heißt Auswahl oder Sichtung. Immer dann, wenn in Krisenzeiten für zu viele Patientinnen und Patienten zu wenig Ressourcen vorhanden sind, wird Triage angewendet. Und anders als im normalen Alltag wird nicht zuerst dem Patienten geholfen, dem es am schlechtesten geht.
Mit dem Thema Triage in der Pflege hat sich die Bochumer Altersforscherin Tanja Segmüller von der Hochschule für Gesundheit intensiv beschäftigt. Für sie ist der Fall eindeutig: "Das ist auf jeden Fall eine Pflege-Triage, weil die Menschen, die den geringsten Pflegebedarf haben, die größte Chance haben, in einem Heim einen Platz zu bekommen und die, die am dringendsten Pflege bräuchten, die Schwerstpflegebedürftigen, die bleiben auf der Strecke in der Klinik oder werden sogar, wir nennen das blutig entlassen nach Hause, ohne Versorgung."
Bundesgesundheitsminister Lauterbach äußert sich auf Anfrage von Report Mainz zum Thema Pflege-Triage nicht.
Hilferuf von Mitarbeiterinnen aus Pflegestützpunkten
Monika Kunisch werde in ihrer täglichen Arbeit mit Pflege-Triage konfrontiert, erzählt sie uns. Sie arbeitet im Pflegestützpunkt in Ludwigshafen und berät Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. "Wir müssen bei uns in der Beratung feststellen, dass immer öfter Menschen aus den Krankenhäusern entlassen werden, die nicht entsprechend versorgt sind. Wir sehen dann oft in Hausbesuchen, dass weder die ambulante pflegerische Versorgung, noch die medizinisch pflegerische Versorgung gewährleistet ist. Und das ist ein Notstand, den kann man so einfach nicht lassen", sagt Kunisch im Interview mit Report Mainz.
Deshalb haben sie und fünf weitere Beraterinnen von Pflegestützpunkten aus ganz Rheinland-Pfalz einen schriftlichen Hilferuf an die Politik verfasst. "Wir sprechen von Pflege-Triage, weil einfach die Dienste und Einrichtungen auswählen. Die wählen aus, um ihr Personal zu entlasten, um ihre Einrichtung zu schützen und da fallen Menschen mit schwerer Pflegebedürftigkeit immer häufiger durchs Raster", so Kunisch.
Reaktion der Politik
Das Papier der Beraterinnen liegt mittlerweile auch dem rheinland-pfälzischen Sozialminister Alexander Schweitzer, SPD, vor. Im Interview mit Report Mainz sagte er auf die Frage, ob es sich um Pflege-Triage handele: "Ich würde dieses Wort nicht benutzen. Weil ich einfach nicht sehe, dass wir, mit Blick auf die tatsächliche Situation insgesamt schon in der Situation sind. Aber das Thema Fachkräfte drückt da natürlich und das Thema Fachkräfte ist der Grund, warum Pflegeeinrichtungen sagen, wir müssen schauen, wen wir aufnehmen können und können wir noch jemanden aufnehmen."
Der Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste, bpa, Bernd Meurer kann den Hilferuf der Pflegestützpunktmitarbeiterinnen nachvollziehen. In seinem Verband sind rund 13.000 Unternehmen organisiert. Meurer wörtlich: "Wenn Pflegeheime Patienten aus den Krankenhäusern nicht aufnehmen können, weil ihnen das Personal fehlt. Wenn ambulante Dienste verzweifelte Hilferufe aus dem häuslichen Bereich von Familien einfach nicht anhören können und nicht abhelfen können, dann kann ich verstehen, dass man hier auch das Gefühl hat, es gibt eine Triage."
Der rheinland-pfälzische Sozialminister Alexander Schweitzer, SPD, verweist auf den Fachkräftemangel.
Fachkräfte dringend gesucht
Einig sind sich Politik und Pflegeverbände, dass Handlungsbedarf besteht. "Das ganze System wird immer schwächer. Hier ist jetzt einfach die Zeit, dass man in einer konzertierten Aktion anfasst und nicht nur politische Erklärungen abgibt, nicht nur Modelle macht, sondern wirklich die Ursachen ermittelt und in Form einer Schnellhilfe einfach eingreift, bevor das Schiff absäuft", sagt bpa-Chef Meurer im Report-Mainz-Interview.
Der rheinland-pfälzische Sozialminister Alexander Schweitzer aber glaubt nicht an eine kurzfristige Lösung. "Das ist eine Illusion zu glauben, man legt einen Schalter um, und alles wird gut. Was wir machen in Rheinland-Pfalz ist eine Fachkräfteinitiative. Wir wollen Ausbildungskapazitäten hochfahren. Wir werden sicherlich auch über Arbeitsbedingungen sprechen müssen."
Auswirkungen auf Notaufnahmen der Krankenhäuser
Derweil wird die Situation immer bedrohlicher. Sie betreffe mittlerweile uns alle, sagt der Sprecher des Agaplesion Bethesda Krankenhauses Hamburg-Bergedorf, Matthias Gerwien. "Um ihre Notaufnahme ordnungsgemäß betreiben zu können brauchen sie eine gewisse Anzahl von freien Betten im Haus, weil sie ja nie wissen können, welcher Patient kommt rein und benötigt eine stationäre Aufnahme. Und wenn sie dann bis zu zehn Prozent ihrer Betten nicht frei bekommen können, weil die Patienten nicht wegvermittelt werden können, dann haben wir da ein Riesenproblem. Wir müssen in solchen Situationen die Notaufnahme vorübergehend schließen", so Gerwien.
Auf Nachfrage von Report Mainz, wie oft das im vergangenen Jahr passiert sei, antwortete er: "Da hab ich keine Zahl direkt vorliegen, aber das kommt schon monatlich vor."