Psychotherapie Auf dem Land wartet man bis zu einem Jahr
Wer psychisch erkrankt ist, braucht Geduld. Gerade auf dem Land fehlen Therapeuten, es gibt Wartezeit von bis zu einem Jahr. Dabei gilt auch bei psychischen Krankheiten: je früher man sie behandelt, desto besser die Heilungschancen.
Seit 20 Jahren leidet Stefanie Boeke an Multipler Sklerose (MS). Als die Symptome immer schlimmer werden, nimmt auch die psychische Belastung zu. Wochenlang ruft sie auf der Suche nach einem Therapieplatz in Praxen an, hinterlässt Nachrichten auf Anrufbeantwortern, schreibt Mails.
"Es war auch oft so, dass ich die Antwort bekomme: Sie brauchen sich gar nicht mehr zu melden bei uns, die Warteliste ist schon so lang, dass es sich nicht lohnt, sich draufschreiben zu lassen", erzählt Boeke. "Es ist einfach die Verwaltung des Mangels."
Wartezeiten bis zu einem Jahr
Sie bekommt schließlich durch Glück einen Therapieplatz im Münchner Uni-Klinikum. Wer nicht im Einzugsgebiet einer größeren Stadt wohnt oder mehrfach erkrankt ist wie Boeke mit ihrer MS, wartet häufig länger als die durchschnittlichen drei Monate - bis zu einem Jahr, zeigen Umfragen der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung.
Sie habe sich hilflos und alleingelassen gefühlt, erzählt Boeke: "Ich habe mein Leben lang versucht, anderen Leuten zu helfen und dann komme ich mir doch teilweise auch so ein bisschen - na ja, sage ich doch mal - verarscht vor, jetzt, wo ich selbst mal Hilfe brauche."
Therapeutensuche belastet zusätzlich
Dabei gehen Fachleute davon aus, dass es bei psychischen Krankheiten nicht anders ist als bei körperlichen Beschwerden: Je früher sie behandelt werden, desto besser die Heilungschancen und desto milder der Verlauf, sagt Peter Henningsen, Direktor der Klinik für Psychosomatik am Münchner Klinikum Rechts der Isar.
Auch wenn es keine eindeutigen Studien dazu gebe: "Wenn man diese plausible Annahme zugrunde legt, dass in langen Wartezeiten sich Krankheitsbilder tendenziell auch verschlechtern, ist klar: Dann werden Patienten zu einem Teil stationär behandlungspflichtig, die das nicht gewesen wären, wenn sie schneller in eine angemessene ambulante Therapie gekommen wären."
Wie viele Therapeuten es gibt, wird festgelegt
Wie viele Psychotherapeuten es in einer Region gibt, legt der Gemeinsame Bundesausschuss in Berlin fest. Hier sitzen Vertreter der Ärzte, der Krankenkassen und der Krankenhausbetreiber zusammen. In städtischen Regionen soll demnach für rund 3000 Menschen ein Psychotherapeut bereitstehen, der von den Kassen finanziert wird.
Für den ländlichen Raum wurde allerdings festgelegt, dass ein Psychotherapeut für rund 6000 Menschen ausreicht. Man geht davon aus, dass Landbewohner für die ärztliche Versorgung auch in die Städte fahren. Die Folge: Auf dem Land sind die Wartezeiten am längsten.
"Machtpolitische Fragen"
Warum wird diese Regelung nicht angepasst, um die Regionen besser zu versorgen? Laut Henningsen ist das eine Folge des Ringens zwischen Ärzteverbänden und Kassen. "Da gibt es ständige Verteilungskämpfe zwischen den unterschiedlichen Richtungen der Medizin und den Krankenkassen", sagt Henningsen.
Jeder fordere mehr Geld für seinen Bereich. Die Kassen wiederum wollten sparen, um die Beiträge stabil zu halten. "Das sind dann letztendlich gesundheitspolitische, wenn man so will machtpolitische Fragen, wo die Gelder hingehen", sagt der Klinikdirektor.
Die Zahl der Psychotherapeuten ist gestiegen
Wie sehen es die Kassen? Ist die Versorgung mit Psychotherapeuten ausreichend? Die schriftliche Antwort der AOK: "Um Wartezeiten weiter zu verringern, setzen wir uns für die weitere bedarfsgerechte Zulassung von PsychotherapeutInnen ein."
Außerdem verweist die Kasse auf Erfolge, am Beispiel von Bayern: Dort konnte die Zahl der zugelassenen Psychotherapeutinnen und -therapeuten seit 2016 um rund 250 Sitze erhöht werden. "Aktuell gibt es im Freistaat 4062 Sitze", so die AOK. Umgerechnet ist das ein Anstieg von 6,5 Prozent in den vergangenen sechs Jahren. Nach einer Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung ist die Nachfrage nach Therapieplätzen aber deutlich stärker gestiegen: Seit Anfang 2020 bundesweit um 40 Prozent.
Krisendienst Bayern
Seit 2021 gibt es in Bayern einen Krisendienst. Jeder kann in seelischen Notlagen eine landesweit einheitliche, kostenlose Telefonnummer anrufen. Tag und Nacht, die ganze Woche über sind hier professionelle Psychotherapeuten erreichbar. Der bekannte Kletterer Alexander Huber setzt sich dafür ein, diese Einrichtung bekannter zu machen: "Der Krisendienst Bayern ist letztendlich nichts anderes als das Rettungswesen bei psychischen Erkrankungen. Dadurch ist heute tatsächlich gewährleistet, dass jeder bei uns im Freistaat die Möglichkeit hat, jemanden am Telefon zu erreichen. Das finde ich unglaublich wichtig."
Sollte sich im Gespräch herausstellen, dass mehr Hilfe nötig ist, stehen bayernweit mobile Einsatzteams bereit, die schnell vor Ort sein können. Damit wird der Mangel an Therapieplätzen nicht beseitigt. Aber immerhin erhält so jeder unmittelbar professionelle psychologische Erste Hilfe.
Stefanie Boeke bei der Therapie.
Mehr Möglichkeiten bei stationärer Behandlung
Zurück ins Münchner Klinikum Rechts der Isar: Gerade besprechen Ärzte, Physiotherapeuten und Psychotherapeuten gemeinsam die weitere Behandlung von Stefanie Boeke. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachrichtungen sei sehr erfolgreich, sagt Oberärztin Nadine Lehnen: "Das Besondere ist, dass wir uns in dieser multimodalen Therapie sehr eng abstimmen können und auch die unterschiedlichen Therapeuten und Therapeutinnen unterschiedlichen Input in so eine Teambesprechung zu den einzelnen Patienten bringen können. Und das ist etwas sehr Schönes."
Patientin Boeke hofft, dass diese intensive und wirksame Behandlung bald mehr Patienten erreicht - auch außerhalb der Kliniken, bei niedergelassenen Therapeuten. Sie hat jedenfalls neuen Lebensmut gefasst und in einem Buch aus der Krankenhausbibliothek etwas Passendes dazu entdeckt, wie sie findet. "Das Buch heißt: 'Steht auf, auch wenn ihr nicht könnt! Behinderung ist Rebellion!' Das ist jetzt mein neues Lebensmotto!", sagt sie und lacht. Nach dem Klinikaufenthalt wird sie allerdings weiter zu einem niedergelassen Therapeuten gehen müssen.