Interview

Interview zum Verfassungsschutz "Es herrscht eine erstarrte Mentalität"

Stand: 28.08.2012 17:22 Uhr

Der Verfassungsschutz ist nicht mehr zeitgemäß, Abteilungen haben sich verselbstständigt und sind nicht mehr kontrollierbar - dieses vernichtende Urteil fällt der Politikwissenschaftler Funke im Gespräch mit tagesschau.de. Ohne einen echten Mentalitätswechsel führten alle Reformbemühungen ins Leere.

tagesschau.de: Herr Funke, was ist die eigentliche Aufgabe des Verfassungsschutzes?

Hajo Funke: Nach dem Verfassungsschutzgesetz von 1950 soll der Verfassungsschutz Informationen beschaffen um Gefahren abzuwehren gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. In der damaligen Zeit war das vor allem die Angst vor dem kommunistischen Umsturz.

Zur Person
Hajo Funke ist Politikwissenschaftler. Sein Schwerpunkt liegt auf den Untersuchungen von Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland. Seit fast 20 Jahren lehrt er an der Freien Universität Berlin, seit 2010 ist der 68-Jährige emeritiert.

tagesschau.de: Wird er dieser Aufgabe gerecht?

Funke: Er bemüht sich, in den jährlichen Verfassungsschutzberichten dieser Aufgabe nachzukommen, aber er hat vielfach  in der Geschichte der Bundesrepublik mehr Schaden als Nutzen angerichtet. Bis Mitte der 1970er Jahre wurde er von ehemaligen SS- oder Gestapoleuten geführt oder mitgeführt, dazu kommt der antikommunistische Zeitgeist der Nachkriegszeit. Die interne Personalstruktur war gegen diesen einen Feind gerichtet. Wenn man das mit NS-Ideologie verstärkt, dann bekommt man ein verzerrtes Bild. Und solche Verzerrungen haben stattgefunden.

Zur prekären Vorgeschichte kommt die heutige Situation dazu. Es gibt zuviel Beliebigkeit in der Definition von sogenannten Verfassungsfeinden. Da taucht dann plötzlich Petra Pau in der Liste der beobachteten Personen auf, die wirklich nicht zu den Gefährdern der demokratischen Grundordnung zu rechnen ist. Und so gibt es eine Kette von Skandalen, eine Serie der Ahnungslosigkeiten.

tagesschau.de: Zum Beispiel?

Funke: Dinge, die längst hätten wahrgenommen werden müssen, werden nicht gesehen, weil das Bewusstsein dafür fehlte.  Ein Beispiel: 2004 hat der Verfassungsschutz eine Handreichung verfasst für den Umgang mit Rechtsterrorismus. Die wurde im gleichen Monat veröffentlicht, in dem in Köln das dem Zwickauer Terror-Trio zugeschriebene Nagelbomben-Attentat verübt wurde. Der Verfassungsschutz hat es nicht geschafft, seine eigene Broschüre auf den Tatbestand zu beziehen.

Es herrscht eine erstarrte Mentalität, die dafür gesorgt hat, dass im Umgang mit Ausländerfeindlichkeit beschwichtigt, verharmlost oder schlicht geleugnet wurde.

tagesschau.de: Ist der Verfassungsschutz in seiner bisherigen Form und Arbeitsweise überhaupt noch zeitgemäß?

Funke: In keinem von beidem ist er das noch. Das zeigt die Schredder-Affäre im Zusammenhang mit den NSU-Ermittlungen: Diejenigen, die da im Bundesamt für Verfassungsschutz Akten geschreddert haben, taten dies nach heutigen Erkenntnissen bewusst, um ihre eigenen Aktionen zu verdecken. Ermittlungsergebnisse wurden also nicht zusammengestellt, wie es den gesetzlich festgelegten Aufgaben entsprechen würde, sondern im Gegenteil: bewusst vernichtet.

tagesschau.de: Kann der deutsche Verfassungsschutz so überhaupt noch die Verfassung schützen?

Funke: Was wir hier sehen ist nicht zufällig Bildung von Schattenreichen. Das, was die jeweiligen Abteilungen tun, hat sich verselbstständigt und ist nicht mehr kontrollierbar. Die Kernstruktur stimmt hier nicht, die Mentalität, wenn man etwas beschwichtigt und verleugnet. Mitarbeiter, die anregten, bei der Aufklärung der ermordeten türkischen Kleinunternehmer auch nach rechts zu schauen, wurden von ihren Kollegen ausgelacht.

Solange man hier keinen Mentalitätswechsel herbeiführt und diesen auch personell repräsentiert ist die Gefahr zu groß, dass sich so etwas wiederholt.

tagesschau.de: Es heißt immer, der Verfassungsschutz solle ein gesellschaftliches "Frühwarnsystem" sein. Funktioniert das?

Funke: Es funktioniert tatsächlich kaum. In manchen Bundesländern gibt es funktionierende, nach außen arbeitende Verfassungsschutzämter, in Brandenburg zum Beispiel. Aber das ist die Ausnahme. Die Untersuchungsausschüsse zur Aufklärung der Versäumnisse um die NSU-Morde zeigen, dass der Verfassungsschutz zunächst für sich selbst sammelt. Dann setzt er die gesammelten Informationen einem Bewertungsraster aus, das häufig nicht zielführend ist, weil die Kriterien viel zu starr sind. So ist der Informationsgehalt, der an die Institutionen wie Polizei weitergereicht wird, häufig mager. 

tagesschau.de: Also ist er kein Frühwarnsystem?

Funke: Anstatt ein Frühwarnsystem sowohl für die Polizei als auch für die Öffentlichkeit zu sein, werden Informationen gegen die Öffentlichkeit verteidigt. Das zeigen jedenfalls die Untersuchungsausschüsse. Es gibt einen Trend, dass man zur Selbsterhaltung alles Mögliche tut, und sogar verdeckt und schreddert und nicht weitergibt. Es gibt auch Verfassungsschutzberichte, die gut sind – weil die Leitung gut war. Aber die vielen Rücktritte nun zeigen deutlich, dass das Führungspersonal versagt hat.

tagesschau.de: Was müsste sich Ihrer Meinung nach beim Verfassungsschutz ändern?

Funke: Es müsste zunächst grundlegend bei den V-Leuten etwas verändert werden, sie müssten stärker geführt und kontrolliert werden. Hier hat es schwere Versäumnisse gegeben, hier haben Beamte sich auch vorführen lassen. Dann müsste es eine sinnvolle und direktere Anbindung an parlamentarische Kontrollgremien geben, zum Beispiel an den Innenausschuss. Dazu braucht man einen Mentalitätswechsel. Verantwortliche Positionen müssen besetzt werden mit demokratischen Persönlichkeiten, die als solche auch standfest sind.

tagesschau.de: Halten Sie dieses System überhaupt für reformierbar?

Funke: Es liegt im System grundsätzlich etwas im Argen. Dann für eine Stärkung der Kompetenzen zu plädieren ist absurd, es müsste im Gegenteil eine Abschwächung geben. Vor allem aber kommt man nicht um einen Mentalitätswechsel herum. Ohne personelle Veränderungen wird der aber kaum möglich sein. Ich bin sehr skeptisch, dass man mit den bisher diskutierten Reformvorschlägen den Problemen gerecht wird.

Das Interview führte Anna-Mareike Krause, tagesschau.de