Landtagswahlen Woher die Stimmen für AfD und BSW kamen
Wieso wählten so viele in Sachsen und Thüringen eine Partei, die als rechtsextrem eingestuft wird? Wie konnte das BSW so schnell so viel Vertrauen gewinnen? Und wie stark hat das BSW die AfD Stimmen gekostet?
Mehr als 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Sachsen und sogar mehr als 45 Prozent in Thüringen haben laut Hochrechnungen ihre Stimme diesmal keiner der etablierten, demokratischen Parteien gegeben. Sie stimmten stattdessen für die AfD, die in beiden Ländern vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird. Oder sie wählten das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das erst vor wenigen Monaten gegründet wurde und dessen politische Positionen noch schwer einzuschätzen sind.
Umfragen, die infratest dimap im Auftrag der ARD am Wahltag und den Tagen davor durchgeführt hat, liefern interessante Erklärungen.
Weniger Protest, eher Überzeugung
Zunächst zur AfD: Sie war in beiden Ländern schon bei der Wahl 2019 sehr stark. In Sachsen hat sie laut Hochrechnung leicht dazugewonnen, in Thüringen nochmal deutlich. Dort ist sie jetzt stärkste Kraft. In beiden Ländern setzt sich ein Trend fort, der schon vor fünf Jahren zu erkennen war: Die AfD wird im Osten Deutschlands zunehmend als "normale" Partei wahrgenommen. Gewählt wird sie immer weniger aus Protest und immer mehr aus Überzeugung - vor allem in Thüringen.
AfD bei Sozialpolitik vor anderen Parteien
In Umfragen zeigt sich das besonders deutlich bei den sogenannten Kompetenzzuschreibungen - also der Frage, welcher Partei die Menschen am ehesten zutrauen, bestimmte politische Aufgaben zu lösen. Bei vielen Landtagswahlen - in Ost und West - hatte die AfD hier zuletzt hinzugewonnen.
In Sachsen und Thüringen liegt sie nun erstmals gleich bei mehreren Themenfeldern auf Platz 1: neben der Asyl- und Flüchtlingspolitik und der Vertretung ostdeutscher Interessen etwa auch bei der Sozialpolitik - obwohl Kritiker ihr vorwerfen, dass sie gerade sozial Schwachen wenig zu bieten hat. Und zumindest in Thüringen liegt sie inzwischen sogar bei der "Meta-Frage" - welche Partei die wichtigsten Probleme im Land am besten lösen kann - fast gleichauf mit der CDU.
Begrenzung der Zuwanderung auch außerhalb der AfD populär
Dass einer rechtsextremen Partei das gelingen könnte, galt nach 1945 in beiden Teilen Deutschlands lange als unvorstellbar. Doch in Sachsen und Thüringen verfestigt sich ein zweiter Trend, der in Umfragen schon seit einiger Zeit zu erkennen ist: Die meisten derer, die die AfD wählen, finden ihre Positionierung am äußersten rechten Rand gut - oder stören sich zumindest nicht daran. So sagen 87 Prozent der AfD-Wählenden in Thüringen, dass es ihnen egal ist, dass die AfD in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht. In Sachsen sind es 78 Prozent.
Und eines der Themen, das die AfD gezielt anspricht, ist die Zuwanderung. Darüber wird zwar in erster Linie in Berlin und Brüssel und nicht in Dresden und Erfurt entschieden, doch für immerhin rund 20 Prozent der Wahlberechtigten war es trotzdem das entscheidende Thema bei diesen Landtagswahlen.
Die Haltung, die die AfD hier einnimmt, findet auch außerhalb ihrer eigenen Wählerschaft Zuspruch. So sagen in beiden Bundesländern etwa 60 Prozent aller Wahlberechtigten, sie finden es gut, dass die AfD der Zuzug von Menschen aus dem Ausland stärker begrenzen will - jeweils nochmal etwa zehn Prozentpunkte mehr als 2019.
Kein reines "Ost-Phänomen"
Das ist allerdings kein reines "Ost-Phänomen": Auch bei der Landtagswahl in Bayern im Herbst des vergangenen Jahres fand rund die Hälfte der Wahlberechtigten die Haltung der AfD in Migrationsfragen gut. Und man kann wegen der allgemein veränderten Stimmung in Deutschland davon ausgehen, dass dieser Wert auch in Bayern heute höher liegen würde.
Auf derart hohe Wahlergebnisse wie in Sachsen und Thüringen kam die AfD aber weder in Bayern noch anderswo bei Landtagswahlen im Westen Deutschlands. Was ist in Sachsen und Thüringen also anders? Neben der bereits beschriebenen zunehmenden "Normalisierung" der Partei im Osten spielt hier auch eine Rolle, dass die langfristige Parteibindung im Osten deutlich geringer ist als im Westen. Und Studien zeigen auch, dass rechte Einstellungen im Osten weiter verbreitet sind als im Westen - wovon die AfD naturgemäß profitiert.
Mit Höcke haben nur noch wenige AfD-Anhänger ein Problem
Dass viele Menschen dort zunehmend kein Problem mehr mit rechtsextremen Positionen haben, zeigt sich besonders an der Person Björn Höcke - dem AfD-Spitzenkandidaten in Thüringen, der als Vordenker und eine Art "Gallionsfigur" der besonders Rechten innerhalb der Partei gilt. 2019 sagten noch 44 Prozent der AfD-Anhänger, Höcke sei ihnen zu nah an rechtsextremen Positionen. 2024 sagten das nur noch 16 Prozent.
Besonders hinzugewonnen hat die AfD übrigens in der Gruppe der sehr jungen Wähler unter 24 - eine Tendenz, die sich schon bei der Europawahl im Juni gezeigt hatte. Ausgesprochen schwach schneidet sie - vor allem in Thüringen - hingegen in der Altersgruppe derjenigen ab, die 70 oder älter sind. Also bei Menschen, die in der Nachkriegszeit geboren wurden oder zu Zeiten, als in Deutschland noch eine rechtsextreme Diktatur herrschte.
Wähler trauen dem BSW viel zu
Damit zum großen Gewinner der Wahlen, dem BSW. In beiden Ländern kommt die erst Anfang des Jahres gegründete Partei auf zweistellige Ergebnisse. Und noch etwas ist ungewöhnlich: Während bei anderen neu gegründete Parteien zunächst oft ein Themenfeld im Mittelpunkt stand - bei der AfD zu Beginn etwa die Euro-Skepsis, bei den Grünen in den 1980er-Jahren Umweltschutz und Atomkraft - ist das BSW in der Wahrnehmung der Wähler erstaunlich breit aufgestellt.
Bei der Kompetenzzuschreibung kommt die Partei in mehreren Themenbereichen aus dem Stand auf zweistellige Werte - etwa bei der Vertretung ostdeutscher Interessen oder der sozialen Gerechtigkeit. Und dass das BSW die Partei ist, die die wichtigsten Aufgaben am besten lösen kann, sagen in Thüringen immerhin zehn Prozent der Wahlberechtigten - ähnlich viele wie bei der Linken, die bisher den Ministerpräsidenten stellt, und mehr als bei der SPD.
Zwar gibt es in den BSW-Wahlprogrammen durchaus klar definierte Forderungen. Trotzdem ist das BSW politisch noch schwer einzuschätzen - auch weil es stark auf eine Person zugeschnitten ist: die Gründerin und Namensgeberin Sahra Wagenknecht.
Bild: Kompetenzen des BSW
Haltung zu Russland zieht - bei BSW-Anhängern
Mit seiner Haltung zu Russland und dessen Krieg gegen die Ukraine hat das Bündnis Sahra Wagenknecht gewissermaßen ein Alleinstellungsmerkmal, von dem es auch profitiert. In Sachsen sagen 55 Prozent der Wahlberechtigten, sie finden es gut, dass sich das BSW gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine einsetzt. In Thüringen sind es sogar 60 Prozent.
Wahlentscheidend bei den Landtagswahlen war dieses Thema - bei dem die Landespolitik praktisch nichts zu entscheiden hat - allerdings tatsächlich fast nur für BSW-Anhänger.
BSW als Alternative zur AfD
Im Vorfeld der Wahl war viel darüber diskutiert worden, ob das BSW in großem Maße Stimmen von der AfD abziehen würde. Das scheint zu einem gewissen Grad der Fall zu sein. Im Vorfeld der Wahl sagte ein Viertel der BSW-Anhänger in Thüringen und sogar ein Drittel in Sachsen, wenn es das BSW nicht gäbe, würden sie derzeit die AfD wählen.
Ramelow rettet die Linken in Thüringen
Blickt man auf die Wählerwanderung (die aus Umfragen am Wahltag selbst errechnet wird), zeigt sich tatsächlich, dass das BSW die einzige Partei ist, an die die AfD im Saldo Stimmen verloren hat. Den größten Anteil unter den BSW-Wählenden machen aber solche aus, die 2019 noch die Linke gewählt haben, von der sich das BSW vor einigen Monaten abgespalten hat.
Das gilt besonders für Thüringen, wo bislang eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung unter dem Linken-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow regiert. An ihm liegt es übrigens nicht, dass die Linke derart massive Verluste einfährt. Er ist vielmehr der Grund, der sie von einem ähnlich katastrophalen Abschneiden wie in Sachsen bewahrt hat. Von denjenigen, die die Linke diesmal in Thüringen gewählt haben, sagen 60 Prozent: Ohne Ramelow hätten sie das nicht getan.
Sorge, den Lebensstandard nicht halten zu können
Was AfD und BSW gemein haben: beide profitieren massiv von Ängsten und der derzeit schlechten Stimmung im Land. Beide haben im Wahlkampf auch darauf gesetzt, der AfD wird darüber hinaus auch vorgeworfen, Ängste gezielt geschürt zu haben.
Sorgen bereitet einer Mehrzahl der Menschen in den beiden Bundesländern derzeit etwa, dass die Kriminalität zunehmen könnte, zu viele Fremde kommen oder der Einfluss des Islam zu groß werden könnte.
Und etwa die Hälfte der Wahlberechtigten macht sich Sorgen, ihren Lebensstandard nicht halten zu können - Tendenz stark steigend. Besonders ausgeprägt sind diese Sorgen bei Wählern von BSW und vor allem AfD.
Gleiches gilt für den Eindruck, dass sich die Lebensverhältnisse im eigenen Umfeld - also etwa die ärztliche Versorgung - in den letzten Jahren verschlechtert hat. Von den Anhängern der Grünen in Sachsen etwa sagen das nur 14 Prozent, beim BSW sind es 34, bei der AfD sogar 55. Wähler der Grünen sind aber vor allem auch in großen Städten wie Leipzig oder Dresden zu finden, in denen das Netz an Ärzten und Kliniken dicht ist.
Ampel-Streit stört auch Ampel-Anhänger massiv
Und inwieweit hat der Streit innerhalb der Ampel im Bund das Ergebnis in den beiden Ländern beeinflusst? In Sachsen sagen 56 Prozent, die Landtagswahl sei eine gute Gelegenheit, der Bundesregierung einen Denkzettel zu verpassen, in Thüringen sind es sogar 61 Prozent.
Und die Bewertung der Arbeit der Bundesregierung kann man nicht anders als katastrophal bezeichnen: In beiden Ländern sind mehr als 80 Prozent der Wählenden unzufrieden mit der Arbeit der Ampel. Und selbst Anhänger von Ampel-Parteien sind mehrheitlich der Ansicht, dass die Bundesregierung so viel streitet, dass im Land fast nichts mehr vorangeht.
FDP auf dem Niveau einer Splitterpartei
In besonderem Maße dafür abgestraft wird die FDP, die in Sachsen und Thüringen inzwischen auf das Niveau einer Splitterpartei geschrumpft ist und deshalb bei Umfragen auch nicht mehr einzeln ausgewiesen werden kann.
Grüne und SPD müssen im Vergleich dazu nur leichte Verluste hinnehmen oder können das Ergebnis von 2019 halten. Wobei man bei allen drei Ampel-Parteien sagen muss: Im Vergleich zum Bund oder anderen Bundesländern waren ihre Ergebnisse in Sachsen und Thüringen auch 2019 schon extrem schlecht.
CDU profitiert vom Willen, die AfD zu verhindern
Und wer hat von der Schwäche der Ampelparteien profitiert? Laut Blick auf die Wählerwanderung sind das in erster Linie CDU und BSW, in kleinerem Maß auch die AfD.
Die CDU - die sich durch das Ergebnis der Landtagswahlen bestätigt sieht - profitierte dabei stark von denjenigen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass eine rechtsextremistische Partei in ihrem Bundesland so stark wird. Etwas mehr als die Hälfte derjenigen, die in Sachsen und Thüringen ihr Kreuz bei den Christdemokraten gemacht haben, sagen in den Umfragen von infratest dimap: "Ich wähle nur CDU, damit die AfD nicht zu viel Einfluss bekommt."