Ein Jahr Zeitenwende-Rede Wie der Krieg die Politik verändert
Nach Russlands Überfall auf die Ukraine prägte Bundeskanzler Scholz den Begriff "Zeitenwende". Heute gibt er eine Regierungserklärung dazu ab, wie es ein Jahr danach um die deutsche Politik steht. Was hat sich in diesem Jahr verändert?
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die deutsche Politik verändert - für SPD-Chefin Saskia Esken auch ganz persönlich. "Außen- und Sicherheitspolitik ist bisher nicht mein Steckenpferd gewesen, aber da müssen wir jetzt alle durch", sagte sie.
Plötzlich ging es im Bundestag darum, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. In der SPD waren die meisten bis dato überzeugt davon, dass es falsch ist, Raketenwerfer oder gar Panzer in ein Kriegsgebiet zu liefern.
Auch der Glaube an Russland als Partner wurde erschüttert. "Klar bedeutet dieser Krieg für uns auch einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung der Rolle von Russland in Europa und auch unserer Rolle in Europa", so Esken.
Linke betont Festhalten an Positionen
Die SPD hat alte Gewissheiten über Bord geworfen. Die Linke sei dagegen bei ihren Überzeugungen geblieben, betont Parteichefin Janine Wissler. "Wir lehnen die Lieferungen von immer mehr und immer schwereren Waffen ab. Wir halten die immer weitere Aufrüstung für einen falschen Weg und sagen, wir müssen die diplomatischen Initiativen stärken, zu Verhandlungen zu kommen", sagte Wissler.
Doch wie Frieden zustande kommen kann, darüber gibt es in der Linken Streit. Das Lager um Sahra Wagenknecht will, dass der Krieg aufhört, selbst wenn Russland Teile der Ukraine besetzt hält. Andere Linke werfen ihr vor, sich nicht genügend nach rechts abzugrenzen. Denn auch die AfD will keine Waffen in die Ukraine liefern, manche in der Partei solidarisieren sich sogar mit Russland.
Union betont staatspolitische Verantwortung
Während sich Linke und AfD gegen den Regierungskurs stellen, sieht sich die Union in der Opposition in einer anderen Rolle. CDU-Politiker Thorsten Frei spricht von staatspolitischer Verantwortung in Krisenzeiten. "Der klassische Konflikt zwischen Regierung und Opposition kann dann da an einzelnen Stellen auch in den Hintergrund treten", sagte er. "Wir haben das beispielsweise erlebt, indem wir mitgeholfen haben, die Verfassung zu ändern, um das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr auf den Weg zu bringen."
Konstruktiv, aber kritisch wollen CDU und CSU sein. Frei ärgert es, dass in diesem Jahr sogar weniger für Verteidigung ausgegeben wird - entgegen dem Versprechen von Bundeskanzler Olaf Scholz. "Er hat hohe Ansprüche formuliert, denen haben wir applaudiert", so Frei. "Und nach einem Jahr muss man sagen: Vieles davon ist nicht erreicht worden. Und das müssen wir beklagen, da kann er keinen Applaus von unserer Seite erwarten."
Krieg überlagert Vorhaben der Koalition
Für den Applaus müssen die Regierungsparteien sorgen. Doch auch für sie war es ein schwieriges Jahr. SPD, Grüne und FDP wollten erklärtermaßen "mehr Fortschritt wagen": in sozialen Fragen, beim Klimawandel, bei der Digitalisierung. Aber der Krieg habe alles überlagert, bedauert der FDP-Politiker Jens Teutrine. "Die Gefahr besteht, dass sich Politik nur mit den akuten Themen beschäftigt, also den Krisenmodus verwaltet."
Ihm ist es wichtig, die Zukunftsvisionen nicht zu vergessen, "dass das nicht hinten runterfallen darf, dass wir wichtige Modernisierungsprojekte haben. Wir haben einen Riesenstau im Bereich Bildung, bei der Digitalisierung, in der Verkehrsinfrastruktur." Und das sieht Teutrine als Herausforderung für die Politik ein Jahr nach der Zeitenwende: nicht nur die Krise von heute, sondern auch die Probleme von morgen im Blick zu behalten.