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Beispiel Nordeuropa Minderheitsregierung - ein Modell für Deutschland?
Was passiert, wenn sich die Parteien im Bundestag nach der Wahl nicht auf eine Mehrheitsregierung verständigen könnten? Wäre eine Minderheitsregierung in Deutschland möglich? Ein Blick nach Nordeuropa.
Seit dem Bruch der Ampelkoalition regiert in Deutschland eine Regierung, die keine Mehrheit hat. Ohne die FDP in der Koalition müssen sich Grüne und SPD daher die nötigen Stimmen im Bundestag suchen. Doch diese Minderheitsregierung hat ein klar definiertes Ende. Sie dient dem Ziel, das Land bis zur Bundestagswahl handlungsfähig zu halten.
Faktisch möglich ist es, dass in Deutschland nach der Bundestagswahl eine Minderheitsregierung ernannt wird. Allerdings wären die Regierungsgeschäfte ohne Mehrheit gerade in Deutschland nur äußerst schwierig und aufwändig umzusetzen, erklärt der Konstanzer Politikwissenschaftler Sven Jochem. Er forscht seit Jahren zu Minderheitsregierungen und warnt davor, dass sich eine Minderheitsregierung ständig wechselnde Mehrheiten suchen müsste.
Zudem würde Deutschland bei internationalen Verhandlungen dann möglicherweise als unsicherer Partner gelten. "Es wäre für die Bundesregierung nicht unbedingt angenehm, auf internationaler Ebene dann auftreten zu müssen, ohne zu wissen, ob das dann auch tatsächlich funktioniert", so Jochem.
Keine absolute Mehrheit in Nordeuropa nötig
Das Regierungsmodell einer Minderheitsregierung ist bisher vor allem in den nordeuropäischen Ländern zu finden. Dort gibt es ein eingespieltes Prozedere, wie man mit Minderheitsregierungen umgeht.
Allerdings unterscheiden sich nicht nur die institutionellen Voraussetzungen, sondern auch der Umgang der Parteien miteinander deutlich vom deutschen System. Gerade in Dänemark, Norwegen und Schweden seien Minderheitsregierungen stark formalisiert, erklärt Jochem.
Das bedeutet, dass sie vor der Regierungsbildung ein Tolerierungsabkommen mit Oppositionsparteien verabreden. Dieses Abkommen besagt, dass die Oppositionsparteien den Gesetzesvorhaben der Minderheitsregierung nicht zustimmen müssen, aber sie auf jeden Fall toleriert.
Das funktioniert, weil die Regierungen in Nordeuropa für ein neues Gesetz nicht die absolute Mehrheit an Ja-Stimmen braucht. Stattdessen reicht es aus, wenn nicht die absolute Mehrheit mit Nein dagegen stimmt. Das nennt man negativen Parlamentarismus.
Anderes Taktieren bei Minderheitsregierungen
Der negative Parlamentarismus bedeutet, die Unterstützungsparteien müssen einem Gesetzesvorhaben der Minderheitsregierung nicht zustimmen, sondern sich nur enthalten. Wie das funktioniert, könne man zur Zeit ganz gut in Schweden erkennen, sagt Politikwissenschaftler Jochem:
Dort regiert eine bürgerliche Koalition mit Minderheit und die Unterstützungspartei, das sind die autoritären Nationalisten: die Schweden-Demokraten. Und natürlich versuchen die Schweden-Demokraten ihre programmatischen Profile in die Regierungspolitik einfließen zu lassen. Sie haben aber gleichzeitig die Möglichkeit, sich immer wieder zu enthalten und dann so zu tun, als ob sie das ganz anders machen würden. Sie können also in der Öffentlichkeit weiter als Oppositionspartei auftreten. Das bedeutet, die Unterstützungspartei kann sich ein bisschen aus der Verantwortung verabschieden.
Wäre eine deutsche Minderheitsregierung stabil?
In Deutschland aber gibt es den positiven Parlamentarismus - die Mehrheit des Parlaments muss aktiv zustimmen, um ein Gesetz zu verabschieden. Eine Minderheitsregierung in Deutschland müsste sich also immer wieder Mehrheiten im Parlament suchen. Damit wäre sie zudem eine ziemlich unsichere Kandidatin für ihre Partner in der Außen-, Sicherheits- und auch in der Europapolitik.
Nicht zuletzt könnte eine Minderheitsregierung auch von der Opposition zu Gesetzen genötigt werden, die sie gar nicht umsetzen will, warnt der Politikwissenschaftler Jochem mit Blick auf Erfahrungen der nordischen Länder. "In Dänemark waren es in den 1980er- und 1990er-Jahren über hundert Gesetze, die von der Opposition verabschiedet und der Regierung aufgenötigt wurden."
In Deutschland fehlen Exitstrategien
Doch es gibt in den nordeuropäischen Ländern für solche Situationen Instrumente, mit denen die Minderheitsregierung eine Exitstrategie betreiben kann. Jochem beschreibt, dass zum Beispiel in Dänemark und Schweden die Minderheitsregierung als ultima ratio sagen kann: "Wenn ihr mir immer Gesetze vorschreibt, also die Opposition immer Gesetze vorschreibt, dann löse ich die Koalition einfach auf und führe Neuwahlen her. In Deutschland ist das eben nicht so."
Eine Minderheitsregierung in Deutschland wäre unfähig, sich aus eigener Kraft aus einer unangenehmen Situation zu befreien. Und das könnte gefährlich werden, sagt Jochem. Denn es wäre gut möglich, dass die Opposition die Mehrheit übernimmt und der Minderheitsregierung dann Gesetze oder Verordnungen vorschreibt.
Eine solche Regierung würde also unter schwierigen Bedingungen starten - und das nach den Erfahrungen aus der Ampel-Zeit. Das Modell scheint daher nur schwer umsetzbar. Sollte die Bundestagswahl die Verhältnisse aber durcheinanderwirbeln, könnte die Zeit kommen, neu zu denken. Dann wären die Parteien gefragt.