Fraunhofer-Studie Wie sich der Radverkehr verdreifachen könnte
Der Radverkehrsanteil könnte bis 2035 dreimal so hoch sein wie jetzt. Das wäre gut für Klima und Lebensqualität, zeigt eine Studie. Um das Potenzial auszuschöpfen, braucht es Geld, Gesamtkonzepte und Geduld.
Wenn Tobias Willderding mit seinem Rad durch Stuttgart fährt, sieht er vor allem eine Autostadt. "Es gibt nur eine einzige längere Strecke, die man mit dem Rad durchgehend ganz okay fahren kann", sagt der 36-Jährige, der ehrenamtlich den örtlichen Ableger des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) leitet. "Viele fühlen sich unsicher beim Radfahren, man fährt viel zwischen Autos, es wird viel gerast in Stuttgart."
Zwar hat die Stadt in den vergangenen Jahren versucht, die Situation zu verbessern - einzelne Fahrradstraßen wurden eingerichtet, mehr Radwege gebaut, aber von einem überzeugenden Gesamtkonzept ist sie weit entfernt. Es gebe Fahrradwege, berichtet Willderding, die im Nirwana enden, viel zu schmal sind oder keinerlei Beleuchtung haben.
Am schlimmsten sei die Lage am Cityring - einer Art Stadtautobahn, die die Stuttgarter Innenstadt durchschneidet - da traue sich kaum jemand mit dem Rad lang. Zudem seien Falschparker auf Fuß- und Radwegen ein ungelöstes Problem.
Viele Radfahrende fühlen sich im Straßenverkehr bedrängt und nicht sicher.
Radwegausbau schleppend
Der Aus- beziehungsweise Umbau der Infrastruktur weg vom Autoprivileg ist vielerorts in Deutschland gewollt und geht doch oft nur schleppend voran. Selbst im grünen Vorzeigeland Baden-Württemberg hinkt die Landesregierung mit ihren Plänen hinterher.
Bis 2030 will man rund 860 Kilometer neuer Radwege bauen, bis 2040 sogar etwa 2.000 Kilometer. Im vergangenen Jahr wurden jedoch nur 27 Kilometer Radwege an Bundesstraßen und 42 Kilometer Radwege an Landesstraßen fertiggestellt. Dieses Jahr soll das besser werden.
Aus Sicht von Rad- und Umweltaktivisten ist das auch dringend nötig. Das Potenzial gut ausgebauter und sicherer Radwege sei riesig, betont der ADFC. Das zeige die neue Studie, die das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe im Auftrag des ADFC erstellt hat.
Viel Potenzial - viel zu tun
Auf Basis verschiedener Datenerhebungen und Umfragen, die zum Beispiel mit einbeziehen, unter welchen Umständen Menschen sich sicher fühlen, Rad zu fahren, haben die Wissenschaftler ein Szenario entworfen, in dem die Radinfrastruktur deutschlandweit deutlich besser wäre als heute - etwa vergleichbar mit der Situation in den Niederlanden, erklärt Mobilitätsforscher Claus Doll, einer der Autoren. "Es geht dabei nicht um eine Zukunftsprognose, sondern um das Potenzial, das eine solche Veränderung mit sich bringen würde."
Wenn die politischen, verwaltungstechnischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmten, könnte der Radverkehrsanteil bis 2035 verdreifacht werden im Vergleich zu heute und bezogen auf den Nahbereich - also Wege von bis zu 30 Kilometern.
Fahrradnetz, Tempo 30 und Integration in ÖPNV
Dafür müsste laut Studie eine "konsequente Flächenumverteilung zu Gunsten des Fuß- und Radverkehrs" erfolgen. Auch Tempo 30 wäre "als Regelgeschwindigkeit innerorts" Teil eines Konzepts ebenso wie "preispolitische Maßnahmen", um den Autoverkehr zu reduzieren. Außerdem müsste der Radverkehr in ein "qualitativ hochwertiges und günstiges Angebot im öffentlichen Personenverkehr" integriert werden.
Es bräuchte ein sehr gutes Fahrradnetz, aber auch eine "positive Fahrradkultur" - also Städte und Gemeinden, aber auch die Menschen an sich müssten sich in jeder Hinsicht stärker auf Rad- und Fußverkehr ausrichten.
Wenn man so radikal, wie in der Studie angenommen, aufs Fahrrad setzen würde, könnte man bundesweit den Anteil des Radverkehrs bis 2035 von aktuell 13 Prozent auf 45 Prozent steigern - was Strecken im Nahbereich betrifft - in manchen besonders radaffinen Städten wie Münster oder Oldenburg wäre sogar ein Anteil von 63 Prozent möglich.
Heißt: die klimaschädliche Kurzstrecke mit dem Auto könnte im Idealszenario der Forscher stark zurückgehen. Im ländlichen Bereich würde man das nicht in diesem Ausmaß schaffen, aber auch dort wären Verbesserungen möglich.
Mit der Radverkehrsförderung, wie sie die Politik aktuell betreibt, würde man laut der Forscher nur eine geringe Verbesserung von 13 auf 15 Prozent erreichen, was den Radanteil angeht.
Raum muss anders verteilt werden, wenn es mehr Radverkehr geben soll.
Höherer Radanteil - sinkender Treibhausgas-Ausstoß
Schafft man hingegen tatsächlich eine Verdreifachung des Radverkehrs, könnten auch die Klimaeffekte eindrücklich sein: Bis zu 19 Millionen Tonnen Treibhausgase ließen sich zusätzlich einsparen "gegenüber der Fortführung der aktuellen Verkehrspolitik", so hat es das Wissenschaftlerteam um Claus Doll ausgerechnet.
Zum Vergleich: 2023 hat der Verkehrssektor laut Umweltbundesamt 148 Millionen Tonnen an Emissionen verursacht und ist das größte Sorgenkind der deutschen Klimapolitik.
Zwar steuert die Studie das Jahr 2035 an, für Doll ist aber klar, wirklich schnell ginge der Wandel in der Realität wahrscheinlich nicht. In den Niederlanden habe man schon seit den 1960er Jahren konsequent umgesteuert, um das heutige System zu haben. Die Grundbedingungen seien: "Beim Radfahren müssen sich die Leute sicher fühlen, es muss einigermaßen komfortabel funktionieren und es braucht ein durchgehendes Netz."
Weg vom "Sammelsurium der Einzelmaßnahmen"
Was es kosten würde, die Infrastruktur in Deutschland so umzubauen, erhebt die Fraunhofer-Studie nicht. Mobilitätsforscher Doll verweist aber darauf, dass die Niederlande mehr als 30 Euro pro Kopf und Jahr für Radinfrastruktur ausgeben, Deutschland nicht mal die Hälfte. Die Entscheidung, wo und wie man investieren will, sei letztlich politisch.
Grundsätzlich müsse man aber wegkommen vom aktuellen "Sammelsurium an Einzelmaßnahmen", betont Doll. "Hier mal eine Radstraße, da einen Fahrradweg - das bringt nur wenig." Es brauche "eine ganzheitliche Planung, die eingebunden ist in eine Vision, wie eine Stadt, eine Kommune aussehen, sich anfühlen soll für ihre Bewohner." Dabei gehe es um weit mehr als nur ums Radfahren - um die Lebensqualität vor Ort.
Radfahren sicher und keine Mutprobe mehr
Das sieht auch Fahrradaktivist Tobias Willderding so. Er fordert, dass die Politik konsequenter handeln und in Stuttgart zum Beispiel Parkplätze "opfern" soll, um für Radfahrer und Fußgänger auszubauen. Durch die Kessellage hat die Stadt nur begrenzte Flächen - deshalb ist es nicht nur ein Kampf um Ressourcen, sondern vor allem auch um Platz.
Willderdings Vision ist, dass "wir in 20 Jahren ein ausgebautes Radnetz haben, wo man mit der ganzen Familie sicher fahren kann - und nicht nur, wenn man mutig ist."