Krisenmanagement der Regierung "Wie Getriebene, nicht wie Treiber"
Zu Beginn der Corona-Krise habe die Regierung noch vieles richtig gemacht, findet Krisenforscher Roselieb. Inzwischen fehle aber ein erkennbarer Fahrplan. Was die Politik besser machen könne, erklärt er im Interview.
tagesschau.de: Im März, als die Pandemie in Deutschland gerade erst losging, haben Sie der Bundesregierung noch eine ziemlich gute Note für ihre Krisenkommunikation ausgestellt. Beurteilen Sie das inzwischen anders?
Frank Roselieb: Es gab mehrere Phasen der Pandemie. Die erste des frühen Lockdowns hat die Bundesregierung insgesamt sehr gut bewältigt. Im Sommer gab's dann ein bisschen Laissez-faire. Da wollte man nicht so richtig wahrhaben, dass es nochmal schlimmer werden könnte, und hat auch Fakten ignoriert. Denn auch bei der Spanischen Grippe gab es eine leichte erste Welle, eine sehr massive zweite Welle und eine mittlere dritte Welle. Man hätte also ahnen können, dass wir noch lange nicht durch sind.
Im Herbst dann appellierte die Kanzlerin und sprach von 20.000 Infektionen an Weihnachten. Da hatte sie mehr als Recht. Die Ministerpräsidenten waren aber nicht so leicht zu überzeugen, da hätte sie vielleicht noch ein bisschen härter argumentieren müssen.
Und in der jetzt laufenden Phase hat man auch in der Kommunikation das Gefühl, dass die Landkarte verloren gegangen ist. Aber die Bürger erwarten selbst in einer solchen Situation, gerade bei einer länger laufenden Pandemie, dass ein Fahrplan erkennbar ist und man weiß, wie geht es weitergeht. Und der fehlt zum jetzigen Zeitpunkt. Da reagieren die Verantwortungsträger wie Getriebene und nicht wie Treiber.
"Bürger müssen das Ziel kennen"
tagesschau.de: Wie könnte ein solcher Fahrplan aussehen?
Roselieb: Zum Beispiel so wie in Großbritannien. Dort wird sinngemäß gesagt: "Jetzt kommt das große Finale, jetzt müssen wir uns nochmal alle ranhalten. Wir impfen wie die Weltmeister. Und dann wird im Sommer alles gut." Das ist zwar eine sehr mutige Prognose. Aber es gibt den Menschen Hoffnung.
Die Bundesregierung hingegen weiß offenbar noch nicht, welchen Weg sie zum Ziel finden möchte. Aber das müssen die Bürger wissen. Sonst ziehen sie irgendwann nicht mehr mit. Eine Mittelfristplanung nach dem "Wann-gilt-was"-Prinzip wäre hilfreich. Beispielsweise bei einer Inzidenz von 50 darf die Gastronomie wieder öffnen.
tagesschau.de: Es hieß, der November-Lockdown sei nötig, damit wir alle Weihnachten feiern können. Dann gab es doch starke Beschränkungen. Dann hieß es, die Schulen sollen offen bleiben, jetzt sind sie geschlossen. Wie sollen die Menschen da noch Vertrauen haben?
Roselieb: So eine Pandemie ist kommunikativ für eine Regierung eine wirkliche Gratwanderung. Die Bürger sind ratlos und deshalb auf Politik und Wissenschaft angewiesen. Auf der anderen Seite wissen Politiker und Wissenschaftler auch nicht alles. Dieses Unwissen müssen sie einerseits zugeben und sagen: Auch für uns ist diese Situation neu. Wir lassen uns beraten. Aber in der Summe aus Wissenschaft und Politik wissen wir immer noch mehr als der Einzelne.
Es ist wie bei einem Flugschüler. Wenn der Pilot plötzlich ausfällt und der Flugschüler die Maschine eigentlich noch gar nicht fliegen darf, ist es trotzdem besser, er bringt sie zu Boden als irgendein Passagier.
"Klassische Lose-Lose-Situation"
tagesschau.de: Das klingt, als ob die Regierung es gar nicht richtig machen kann?
Roselieb: Für die Politik ist es eine klassische Lose-Lose-Situation. Wir haben dafür in der Krisenforschung zwei Begriffe: Die selbsterfüllende und die selbstzerstörende Prophezeiung. Wenn die Kanzlerin vor hohen Zahlen an Weihnachten warnt und die Länderchefs ihr nicht folgen, dann tritt diese Prophezeiung ein.
Hätte man aber gleich sehr harte Maßnahmen ergriffen, wäre es zur selbstzerstörenden Prophezeiung gekommen. Dann wären die Zahlen in Deutschland wahrscheinlich gar nicht so hoch geschossen und die Menschen hätten gesagt: Diese harten Maßnahmen waren völlig unnötig.
tagesschau.de: Ein anderes Beispiel: Gesundheitsminister Spahn hat eine Impfpflicht ausgeschlossen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder stößt dennoch eine Impfpflicht für Pflegepersonal an. Wem sollen die Leute glauben?
Roselieb: Was Herr Söder da gerade macht, ist tatsächlich völlig kontraproduktiv. Man könnte so etwas diskutieren, wenn die Menschen nicht auf die Impfeinladung reagieren oder Impftermine verstreichen lassen. Aber momentan haben wir die Situation, dass gar nicht genug Impfstoff da ist für die Menschen, die sich impfen lassen möchten. Es ist also überhaupt nicht der richtige Zeitpunkt für eine solche Debatte. Dieses Wirrwarr an Themen irritiert die Menschen wirklich.
"Wettbewerb der Systeme ist gut"
tagesschau.de: Generell sprechen Bund und Länder in dieser Krise selten mit einer Stimme. Ist das nicht verheerend?
Roselieb: Unser Krisenmanagement ist im Katastrophenfall nunmal dezentral. Da entscheiden die Länder oder die Oberbürgermeister und Landräte. Den "einen" Masterplan für die Pandemie gibt es nicht und im Grund haben wir in Deutschland sehr gute Erfahrungen gemacht mit einem gewissen Wettbewerb der Systeme. Es ist gut, dass die Länder verschiedene Wege ausprobieren und man dann sehen kann, welcher der beste ist.
In Schleswig-Holstein beispielsweise mussten wir im Sommer entscheiden: Lassen wir Tagestouristen ins Land oder nicht? Da waren die Meinungen der Infektionsmediziner bei uns im Land und die in Mecklenburg-Vorpommern offenbar grundverschieden. Wir haben sie reingelassen, weil sie in der Regel an den Strand wollen, wo das Infektionsrisiko recht gering ist. Mecklenburg-Vorpommern hat sie nicht reingelassen. Dort gab es nun einen starken Einbruch beim Tourismus, während bei uns die Infektionszahlen dennoch nicht höher waren. Daraus kann man jetzt lernen. Im nächsten Sommer weiß man: Tagestouristen sind nicht das Problem.
"Drama, Ernsthaftigkeit und ein Silberstreif"
tagesschau.de: Was müssen die Politiker jetzt besser machen?
Roselieb: Es kommt auf drei Punkte an: Als erstes müssen sie natürlich informieren. Was gilt für den Einzelnen? Zweitens müssen sie auch ein bisschen mehr erklären: Beispielsweise die Frage, wie man ausgerechnet auf 15 Kilometer kommt bei den Bewegungsbeschränkungen. Oder warum gab es damals diese 800-Quadratmeter-Regel in Geschäften im ersten Lockdown?
Drittens müssen sie werben. Diese Grundrechtseinschränkungen sind sehr massiv, und da greift man auf so eine Art Kriegsrhetorik zurück: Am Anfang braucht man Drama und Ernsthaftigkeit und muss Alternativlosigkeit aufzeigen. Aber dann braucht man auch den Silberstreif am Horizont, um deutlich zu machen: Es ist eine harte Zeit, aber danach wird es wieder besser. Und das fehlt momentan. Andere europäische Länder wollen das jetzt offenbar machen. Die wollen ganz klar sagen, ab welchen Inzidenzwerten was genau wieder möglich ist oder eben auch nicht. Dann gibt es zumindest eine Perspektive.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.