Radikalisierung der Corona-Proteste "Es entstehen Gegengemeinschaften zur Politik"
Rechtsextreme Tendenzen werden in der Corona-Protestbewegung stärker, sagt der Jenaer Forscher Matthias Quent. Dabei bilde Antisemitismus den Kitt zwischen den unterschiedlichen Gegnern der Corona-Politik.
tagesschau.de: Sind die Vergleiche mit NS-Widerstandskämpfern oder -opfern, die nun bei Corona-Protesten zu hören sind, unbedarft oder schon Strategie dieser neuen Bewegung?
Matthias Quent: Die Selbstinszenierung als Widerstandskämpfer gegen vermeintlich diktatorisches Unrecht und die Gleichsetzung mit den Opfern des Nationalsozialismus ist ein tief eingebranntes Muster bei rechtsradikalen Bewegungen und der AfD, das diese seit Jahren geschürt haben. Ob diese Jana aus Kassel zu denen gehört, die davon direkt beeinflusst sind - oder ob sie aus der Stimmung heraus dieses Weltbild des Widerstandes gegen eine vermeintlich totalitäre Gefahr reproduziert, kann ich nicht sagen. Aber die Opferinszenierung ist sowohl Ausdruck einer Selbstwahrnehmung als auch eine Kommunikationsstrategie sowie eine spezifische Form des Antisemitismus.
"In den Kommunen gärt eine gefährliche Stimmung"
tagesschau.de: Es wird jetzt viel über diese aktuellen Einzelfälle und die gewaltsamen Proteste etwa in Leipzig diskutiert. Gärt da noch mehr im Hintergrund?
Quent: Tatsächlich ist dieses Denken schon seit einem halben Jahr in diesen Gruppen vorhanden, auch im digitalen Raum. In Thüringen hat ein ehemaliger Landrat im Frühsommer schon ähnliches verbreitet. Wo wir schärfer hinschauen müssten, sind die vielen Situationen in den Kommunen vor Ort. Wenn zum Beispiel Mitarbeiter der Verwaltung, die für die Umsetzung der Corona-Maßnahmen zuständig sind, direkt angegriffen und angefeindet werden.
Dort gärt eine gefährliche Stimmung, die in der Regel nicht immer gleich in direkte Gewaltproteste umschlägt, wo dann alle hinschauen. Demokratische Selbstverständlichkeiten erodieren im Alltag - die Demonstrationen zeigen nur die Spitze des Eisbergs. Es entstehen strömungsübergreifende Gegengemeinschaften zur offiziellen Politik und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt der Mehrheit in der Corona-Pandemie, die ich bedrohlich finde.
tagesschau.de: Hat diese Protestform eine neue Qualität?
Quent: Sie hat deswegen eine neue Qualität, weil die radikale Rechte damit neue Zielgruppen und neue Milieus für ihre Ablehnung von Globalisierung, Eliten, Wissenschaft und rationalem Diskurs erreicht, etwa die Impfgegner oder esoterisch geprägten Menschen. Das geht über das bekannte Protest-Spektrum hinaus, das mit Pegida und AfD originär verbunden ist.
tagesschau.de: Beobachten Sie eine zunehmende rechtsextreme Radikalisierung seit Beginn der Proteste?
Quent: Wir haben bereits ganz am Anfang dieser Proteste im April davor gewarnt, dass Rechtsextreme versuchen, diese Kundgebungen zu vereinnahmen. Weil das zum einen verschriftlichte Strategie war, etwa von der "Identitären Bewegung" und auch von AfD-Akteuren. Und weil man in vielen Regionen früh gesehen hat, dass sich Rechtsextreme an die Spitze der Proteste gestellt haben.
Heute ist es so, dass die Protestbewegung inhaltlich strukturell rechts dominiert wird. Das heißt, diejenigen, die mit einer politischen Professionalität und Erfahrung und Ideologie da reingehen und steuern, sind Rechtsextreme. Viele andere Teilnehmer sind vielleicht nicht ideologisch, sondern aus diffusen Motiven gegen alles - gegen die Politik oder generell getrieben vom Unbehagen gegen die Moderne und die Wissenschaft, gegen die Regierung und die Medien ...
tagesschau.de: … die dann Rechtsextreme in ihren Reihen offenkundig tolerieren.
Quent: Das hat wohl auch damit zu tun, dass es keine anderen demokratischen Protestangebote gibt für Leute, die in dieser Ausnahmesituation das Bedürfnis haben, Widerspruch zu äußern. Das ist ja auch völlig legitim und notwendig. Aber tatsächlich schafften es vor allem rechtsextreme verschwörungsideologische Anbieter im Netz und auf den Straßen, die im Umfeld der AfD existieren, diese Proteste zu beeinflussen und ihre Stoßrichtung zu steuern.
Es hätte ja auch ein kapitalismuskritischer Sozialprotest für solidarische Umverteilung werden können - ist es aber nicht, sondern es wurde ein egoistisches Aufbegehren. Das ist eine deutliche Veränderung der Protestlandschaft der vergangenen Jahrzehnte. Diese liegt nicht in der Pandemie begründet, sondern im allgemeinen Wertewandel und den Vorbewegungen rechts außen: Mit der AfD, mit Pegida und den Montagsmahnwachen aus dem Jahr 2014 - und vor allem der rechten Gegenöffentlichkeit, die sich im Dunstkreis der AfD in den vergangenen Jahren vor allem im Netz verselbstständigt hat.
tagesschau.de: Kommt der Antisemitismus da jetzt noch oben drauf oder war der auch von Anfang an bei den sogenannten Hygiene-Demos dabei?
Quent: Der war von Anfang an mit im Spiel. Wir sehen als Besonderheit dieser Proteste, dass Antisemitismus dort massenhaft stets als verschwörerisches Raunen präsent ist, aber häufig auch explizit zutage tritt. Etwa bei der Selbstmarkierung von Impfkritikern mit dem Judenstern. Er bildet den gemeinsamen Kitt - auch bei dieser aktuellen Form von Elitenabwehr, die populistisch ist und von immer radikaler werdenden Teilen der Bewegung in ein antisemitisches Verschwörungsdenken gesteigert wird.
tagesschau.de: Wie erklären Sie sich, dass die Organisatoren der Querdenken-Bewegung sich nicht deutlicher von solchen Unterwanderungen distanzieren?
Quent: Gerade an der Querdenken-Gruppe aus Baden-Württemberg kann man die Radikalisierung dieser Szene sehr gut zeigen. Wenn ich das anhand ihrer Online-Auftritte nachzeichne, haben die überwiegend als Demokraten angefangen, auch wenn von Anfang an Reichsbürger dabei waren. Aber sie haben sich immer mehr unter dem Einfluss von Verschwörungserzählungen von Influencern wie Attila Hildmann radikalisiert, weil ein Polarisierungsdruck entstanden ist - bis zu dem Punkt, dass Querdenken-Gründer Michael Ballweg QAnon-Parolen benutzt. Es existieren hier wechselseitige Abhängigkeiten, da solche Bewegungen insbesondere von der öffentlichen Aufmerksamkeit leben und darauf abzielen. Selbst die Polizei angreifende Hooligans schaden da nicht, sondern schaffen Aufmerksamkeit, Schlagkraft und Straßenmacht gegen die vermeintliche Corona-Diktatur.
"Es braucht mehr Beziehungsarbeit im Netz"
tagesschau.de: Inzwischen fordern Politiker wie Markus Söder, die Bewegung vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Ist für Sie diese Schwelle auch schon erreicht?
Quent: In dieser Bewegung gibt es ohne Zweifel ein massives Gewaltpotenzial und auch antidemokratische, verfassungsfeindliche Bestrebungen. Nichtsdestotrotz sollte man nicht dem Irrglauben erliegen, dass man gesellschaftliche Probleme und Konflikte polizeilich oder mit dem Nachrichtendienst lösen kann. Die Spaltung zieht sich ja weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Dafür braucht es eine transparente Politik mit kritischem, demokratischem Diskurs und klaren Positionen aus der Zivilgesellschaft.
Ich halte auch konkrete Programme zur Stärkung von Akteuren für nötig, die davon betroffen sind und zum Teil bedroht werden, um besser mit Verschwörung und Antisemitismus umzugehen. Gerade unter den erschwerten Bedingungen physischer Distanzierung brauchen wir mehr Wissen und mehr Praxis für Prävention und Beziehungsarbeit im Netz. Da wünsche ich mir ein schnelleres Vorgehen der Politik. Denn die Herausforderungen bestehen ja jetzt und nicht erst im nächsten Jahr.
Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de