Interview

Interview mit Schulberaterin Enja Riegel "Bildung ist das zentrale Element für Integration"

Stand: 16.10.2007 13:18 Uhr

In Berlin diskutieren Fachleute über "Integration durch Bildung". Unter den Rednern sind Kanzlerin Merkel und EU-Kommissionspräsident Barroso. tagesschau.de sprach mit der Schulberaterin Enja Riegel darüber, warum Schulen ein immer wichtigerer Ort für Integration werden.

In Berlin diskutieren Fachleute über "Integration durch Bildung". Unter den Rednern sind Bundeskanzlerin Merkel und EU-Kommissionspräsident Barroso. tagesschau.de sprach mit der Schulberaterin Enja Riegel darüber, warum Schulen ein immer wichtigerer Ort für Integration werden.

tagesschau.de: Welchen Beitrag leistet Bildung zur Integration in Deutschland?

Enja Riegel: Integration findet vor allem anderen in der Bildung statt, das ist das zentrale Element überhaupt. Die Sprache erlernen, ein gegenseitiges Gefühl für unterschiedliche Kulturen zu bekommen, gemeinsames Miteinander üben - das sind wesentliche Bestandteile von Integration. Und diese sind eng an die Schule geknüpft.

tagesschau.de: Und sind die Schulen in Deutschland dafür gerüstet?

"Wir sind denkbar schlecht aufgestellt"

Riegel: Wir sind denkbar schlecht aufgestellt. Die meisten Schulen in Deutschland sind noch immer reine Lernkäfige. Aber um sich bilden zu können, brauchen die Schüler eine adäquate Umgebung, in der sie Anregungen, Aufgaben und Gestaltungsmöglichkeiten finden. Und sie brauchen Menschen, die sich ihnen zuwenden, die sie ermutigen und die ihnen ein Vorbild sind.

tagesschau.de: Kommt der Schule dabei eine größere Aufgabe zu als der klassischen Familie?

Riegel: Ja, die Schule ist dafür der zentrale Ort. Die meisten deutschen Kinder haben ja heute keine Geschwister mehr, und viele nicht einmal zwei Eltern. All die Aufgaben und Möglichkeiten, die ein Mensch braucht, um erwachsen zu werden, um lernen zu dürfen, neugierig und mutig zu bleiben, findet er heutzutage nicht mehr in der Familie, sondern in der Schule.

tagesschau.de: Und wie sollten die Schulen auf die wachsenden Anforderungen reagieren?

Riegel: Ganz wichtig wäre etwa einfach ein "guter Ort". Ein Ort, in dem Kinder nicht in Container gepfercht werden und vier oder sechs Stunden am Tag in größter Langeweile irgendwas pauken müssen. Sondern ein Ort, der selber so ausgestattet ist, dass er zum gemeinsamen Lernen und Arbeiten anregt.

tagesschau.de: Fällt Ihnen da ein Beispiel ein?

Riegel: Zum Beispiel die Kleine Kielstraße in Dortmund. Das ist eine Grundschule mit 85 Prozent Ausländerkindern, die im vergangenen Jahr als beste Schule Deutschlands ausgezeichnet wurde. Dort kümmern sich die Lehrer nicht nur um ihre Schüler, sondern knüpfen auch frühzeitig Kontakte mit den Eltern. So entsteht frühzeitig Vertrauen. Bei den ausländischen Kindern hängt ganz viel davon ab, dass man die Eltern gewinnt; dass auch die Eltern die Schule als einen Ort begreifen, wo sie sagen: Hier geht es auch mir gut, hier gehe auch ich gerne hin, und das ist auch ein guter Ort für meine Kinder.

tagesschau.de: Kann in einer Schule mit 85 Prozent Ausländeranteil überhaupt erfolgreiche Integration stattfinden?

Riegel: Natürlich geht das. Wer anderes behauptet, redet Quatsch. Es geht ja nicht in erster Linie um Ausländerkinder, sondern um Kinder. In der Dortmunder Schule gehen 60 Prozent dieser Kinder nach der vierten Klasse entweder aufs Gymnasium oder auf eine Gesamtschule. Das ist enorm. Es profitieren die Deutschen, es profitieren die Ausländer, es profitiert die Wirtschaft - und es profitiert unser Grundgesetz, weil das zu mehr Chancengleichheit führt.

tagesschau.de: Und sonst tut sich zuwenig an Deutschlands Schulen?

"Politik und Wirtschaft sind aufmerksamer geworden"

Riegel: Inzwischen sind sowohl die Politik als auch die Wirtschaft aufmerksamer geworden. Die Politik hat's gemerkt, weil es immer mehr kostet, wenn man etwa Migrantenkinder vernachlässigt. Wenn man das nicht im Auge hat, führen die ihr Ghetto-Dasein und sie sind für die Gesellschaft verloren. Integration heißt ja nicht: Lernt mal alle nur deutsch. Sondern man muss doch damit locken, dass Migrantenkinder an unserem Leben teilnehmen.

tagesschau.de: Welches Interesse hat die Wirtschaft an besserer Integration?

Enja Riegel

Fast 20 Jahre war Enja Riegel Schulleiterin an der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. Schon frühzeitig wandelte sie das Gymnasium in eine Gesamt-und Reformschule um. Seit ihrer Pensionierung arbeitet Riegel als Beraterin für Schulen. Derzeit hebt die studierte Anglistin und Germanistin gemeinsam mit anderen das Projekt Campus Klarenthal in Wiesbaden aus der Taufe - eine Privatschule, in der Kinder vom Kita-Alter bis hin zum Abitur betreut werden sollen.


Riegel: Die Industrie klagt schon länger über die schlechte Ausbildung von Hauptschulabsolventen. Oft sieht es doch so aus: Die Schüler kommen in eine Grundschule, die Kinder sprechen schlecht deutsch, die Lehrerin hat keine Zeit, niemand kann sich richtig kümmern, und dann werden viele in die Hauptschule geschickt. Und dort finden sich häufig sehr intelligente und neugierige Kinder, denen das aber ganz schnell vergeht. Denn wenn man sich lange genug langweilt, wenn man lange genug beschädigt und beschämt wird, ist man nicht mehr neugierig. Und das sind dann die Kinder, die später keinen Abschluss machen und keine Ausbildung finden. Die können einfach nichts.

tagesschau.de: In welchen Ländern läuft das besser?

"Ich setze auf das Verantwortungsbewusstsein der Wirtschaft"

Riegel: Es gibt eine ganze Reihe von Ländern, wo man sich frühzeitig umgestellt hat, etwa in den Niederlanden, in Schweden, in England, in Kanada. Das sind im Übrigen auch alles Länder, die bei Pisa sehr viel besser abschneiden als in Deutschland.

tagesschau.de: In Berlin tagen heute Fachleute zum Thema, im Mittelpunkt stehen Public-Private-Partnerships – auch ein Thema für Schulen?

Riegel: Wenn es Stiftungen oder private Sponsoren gibt, die etwas für Integration tun wollen, dann kann ich nur sagen: Herzlich Willkommen! Ich gründe gerade in Wiesbaden eine private Schule, vom Kindergarten bis zum Abitur. Dort will ich modellhaft zeigen, wie es gehen kann, wenn alle Kinder – alle Begabungen, jedwede Herkunft – zusammen lernen. Da kriege ich vom Staat erst einmal keinen Cent, und nach drei Jahren auch nur 60 Prozent der Personalkosten. Deshalb sind wir auf Spendengelder angewiesen. Ich setze auf das Verantwortungsbewusstsein der Wirtschaft.

Das Interview führte Ulrich Bentele, tagesschau.de