Arzneimittelknappheit Kein Rezept gegen den Mangel
Während der Hochphase der Corona-Pandemie spitzte sich die Situation zu - aber schon zuvor klagten Ärzte und Apotheker über Lieferengpässe bei Arzneien. Die Gründe sind bekannt, doch Lösungen lassen auf sich warten.
Antriebslosigkeit, Leistungsminderung, Gedächtnisschwäche und Depressionen: Eine Fehlfunktion der Schilddrüse kann die Lebensqualität einschränken. Immerhin sind die Beschwerden meist leicht behandelbar, wenn der entsprechende Wirkstoff zu haben ist. Doch ein häufig von Ärzten verschriebenes Medikament mit höherer Dosis des Schilddrüsenhormons L-Thyroxin ist derzeit kaum zu bekommen. Die Folge für Betroffene: Ihr Körper muss sich auf eine Ersatzarznei einstellen, die das L-Thyroxin im Körper anders als gewohnt freisetzt. Damit kehren die Symptome der Fehlfunktion der Schilddrüse erst mal zurück.
Bei Diabetes mellitus Typ 2 gilt unter Ärzten Metformin als Mittel der ersten Wahl. Es wird oft allein oder in Kombination mit anderen Medikamenten zur Behandlung eingesetzt. Doch auch hier meldet das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte derzeit Engpässe. Für 354 von rund 103.000 zugelassenen Arzneimitteln sind Lieferengpässe gemeldet, die sich zwar oft durch wirkstoffgleiche Ausweichmittel ersetzen lassen. Aber auch 144 Wirkstoffe allein werden in den Lieferengpassmeldungen angezeigt.
Auch Krankenhäuser kämpfen gegen Engpässe
Nicht nur Patienten können deshalb enttäuscht vor der Verkaufstheke ihrer Apotheke stehen, sondern auch Krankenhäuser müssen mit dem Mangel jonglieren: "Wir kämpfen jeden Tag gegen Lieferengpässe an. Spezielle Antibiotika für schwerkranke Patienten, Narkosemittel, Schmerzmittel: Das alles fehlt seit Jahren immer wieder. Meistens kommt die Meldung kurzfristig und das überrascht uns dann", schildert Victoria Keßler, Leiterin der Krankenhausapotheke des Westpfalz-Klinikums, einem Maximalversorger mit vier Häusern.
Zwar finde sich bisher immer eine Alternative, falls ein Mittel fehlt. Aber das zu finden, sei meist mit hohem Aufwand verbunden. "Eine unserer Apothekerin beschäftigt sich fast nur noch damit." Aus einem anderen Krankenhaus heißt es, dass schon begonnene Krebs-Therapien mangels Mittel ausgesetzt werden mussten. Keßler überrascht das nicht. "Es ist traurig, dass es uns hier in Deutschland so geht. Das hätte ich noch vor ein paar Jahren nicht erwartet bei Arzneimitteln, von denen Leben abhängen."
"Schade, dass es erst Corona brauchte"
Auch der Präsident der Bundesärztekammer Klaus Reinhardt kritisiert: "Das ist ein zunehmendes Problem - auch schon vor der Corona-Pandemie, auf das wir als Ärzteschaft im Sinne einer vernünftigen Patientenversorgung schon lange hinweisen. Es ist jetzt allerhöchste Zeit, sich dem zu widmen. Und es ist schade, dass es erst Corona brauchte, um sich diesem Thema intensiver zu widmen."
Drei Gründe machen Fachleute für Lieferengpässe aus:
• Rabattverträge: Krankenkassen erstatten nur das Medikament eines Herstellers und erhalten dafür im Gegenzug von ihm Rabatt, woraufhin die Konkurrenz Deutschland mit dem gleichen Medikament nicht mehr versorgt.
• Marktverengung: Immer mehr Firmen streichen ihr Angebot auf die lukrativsten Arzneien zusammen, sodass es für manche Wirkstoffe nur noch einen oder zwei Hersteller für die ganze Welt gibt.
• Abwanderung: Ebenfalls zur Gewinnoptimierung - nicht mal wegen geringerer Lohnkosten, sondern weil Zertifizierungen billiger und Umweltauflagen niedriger sind - haben viele die Produktion nach China und Indien verlagert. Aus diesen beiden Ländern stammt einer Studie der amerikanischen Yale-University zufolge fast ein Drittel aller medizinischen Wirkstoffe. Bei Antibiotika allein kommen Schätzungen zufolge acht von zehn Vorprodukte aus China.
Spahn: Mehr Wirkstoffe "Made in EU"
"Wir haben schon vor einem Jahr dem Europäischen Parlament nahegelegt, am besten konzertiert Maßnahmen zu ergreifen, damit wir in Europa unabhängiger werden von Lieferketten aus Asien", erklärt Reinhardt. Und Gesundheitsminister Jens Spahn scheint diesen Appell vernommen zu haben: "Sicherstellung der Versorgung von Arzneimitteln" ist einer seiner Schwerpunkte zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Dazu sollen wieder mehr Wirkstoffe "Made in EU" werden.
Allerdings heißt es aus Spahns Ministerium Mitte Juli: "Es liegen noch keine abschließenden Kenntnisse darüber vor, welche Wirkstoffe bereits heute in Europa hergestellt werden können bzw. ob sich Produktionskapazitäten erweitern lassen." Und: "Grundsätzlich liegt es in unternehmerischer Hand, an welchen Standorten produziert wird bzw. von welchen Anbietern benötigte Wirkstoffe bezogen werden."
Die Suche nach einem Rezept gegen Medikamentenmangel wird sich also noch weiterhin ziehen und die Mitarbeiter der Krankenhausapotheke des Westpfalz-Klinikums Kaiserslautern müssen solange mehr arbeiten: "Zurzeit müssen wir täglich überlegen, wie wir ein anderes fehlendes Arzneimittel ersetzen. Dann besprechen wir unser Rechercheergebnis mit den Ärzten und müssen der Pflegekraft kommunizieren, warum jetzt nicht das Mittel im Schrank steht, das sie erwarten, und wie es zu verabreichen ist." Die Frage, ob das einer Industrienation wie Deutschland würdig sei, beantwortet Keßler mit einem klaren "Nein".