Interview zur Studie der Ebert-Stiftung "Bildung ist einziger Weg aus der Misere"
Schon bevor die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) erschienen war, sorgten Auszüge für Schlagzeilen. Im Gespräch mit tagesschau.de erklärt Frank-Dieter Karl, Abteilungsleiter Gesellschaftspolitische Information bei der FES, womit sich die Studie genau beschäftigt, was das "Prekariat" ist und warum er sich gegen den Begriff "Unterschicht" wehrt.
tagesschau.de: Teile Ihrer Studie "Gesellschaft im Reformprozess" sorgen bereits für Schlagzeilen, obwohl sie noch gar nicht erschienen ist. Bisher sind nur Auszüge bekannt - wie sind diese denn an die Öffentlichkeit gelangt?
Frank-Dieter Karl: Das weiß ich nicht. Ich habe vergangene Woche das erste Mal einen Zeitungsartikel mit einem Verweis auf unsere Studie gelesen. Im Augenblick wird allerdings nur über einen winzigen Ausschnitt der Gesamtstudie gesprochen – und daraus werden nun viele Schlagzeilen gemacht.
tagesschau.de: Was sind denn die Kernaussagen der Studie?
Karl: Ziel der Studie war es, neue Zielgruppen für unsere politische Bildungsarbeit auszumachen. Anders als sonst haben wir aber neben sozio-demographischen Daten (Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen usw. – Anm. der Redaktion) auch nach Einstellungen, Werten und Politikadaption gefragt. Dabei haben wir neun gesellschaftliche Gruppen ausgemacht, die sich in ihren Werthaltungen deutlich voneinander unterscheiden, was aber überlagert wird von den erwähnten sozio-demographischen Daten. Im Moment wird nun ausschließlich über eine dieser neun Gruppen gesprochen, die wir nicht Unterschicht genannt haben, sondern „Prekariat“.
tagesschau.de: Was ist damit gemeint?
Karl: "Prekariat" bedeutet, dass die Gesamtlebensumstände in dieser Gruppe wirklich prekär sind. Prekär mit Blick auf die Wohnsituation, auf die Familiensituation, in sehr, sehr vielen Fällen auf die Gesundheitssituation. Wir finden hier in vielen Fällen einen sehr niedrigen Bildungsgrad und ein ganz geringes Haushaltsnettoeinkommen. Die gesamten Lebensumstände in diesem Ausschnitt der Wählerschaft sind als prekär zu bezeichnen. Und deshalb auch der Begriff „Prekariat“, der einfach mehr umfasst als der Begriff Unterschicht. Das "Prekariat" umfasst acht Prozent, wobei die Gruppen in ihrer Größe relativ nahe beieinander liegen.
tagesschau.de: Können Sie aufgrund Ihrer Studie auch Aussagen machen, welche Rolle die Arbeitsmarktreformen, konkret Hartz IV, für dieses "Prekariat" spielen?
Karl: Nein, das können wir nicht. Ich weiß, dass das von einigen aktiven Politikern so interpretiert wird. Das deckt die Studie aber nicht, weil wir auch niemanden gefragt haben, wie er in diese Situation gekommen ist. Wir haben die Höhe des Haushaltseinkommens erfragt, nicht aber wie dieses zustande kommt. Natürlich gibt es eine Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und diesem Einkommen. Aber den Schluss zu ziehen, Hartz IV sei daran schuld, dass diese Gruppe so groß ist, das halte ich – mit Verlaub gesagt – für sehr kurz gegriffen.
tagesschau.de: Sie wehren sich dagegen, das von Ihnen beschriebene "Prekariat" als Unterschicht zu bezeichnen. Warum?
Karl: Ich denke, was wir mit "Prekariat" bezeichnet haben, ist umfassender als Unterschicht. Dabei handelt es sich ja um einen feststehenden Begriff aus der Soziologie, der sich ableitet aus sozio-demographischen Merkmalen. Weil wir nun aber auch auf der Ebene von Einstellungen und Werten gefragt haben, ist unser Begriff "Prekariat" viel umfassender als Unterschicht. Wobei ich gut nachvollziehen kann, dass Politiker diesen Begriff verwenden: Sie haben drei Sätze Zeit – und die bräuchten sie schon, um Prekariat zu erklären.
tagesschau.de: Kommt die Studie auch zu einem Schluss, was politisch getan werden müsste?
Karl: Die Studie ist in erster Linie eine Zustandsbeschreibung und kein Heft für politische Empfehlungen. Aber klar ist natürlich, dass sich aus unserer Beschreibung die Defizite erkennen lassen und sich daraus politische Schlüsse ziehen lassen. Aus meiner Sicht ist das zentrale Problem in den unteren Segmenten Bildung, Bildung und noch mal Bildung. Das ist die einzige Chance, den Leuten da wieder rauszuhelfen. Geld allein ist das nicht. Es entwickeln sich auch gewisse subkulturelle Merkmale, die sich in besonderer Weise in einigen Stadtteilen ausgeprägt haben. Das lässt sich nicht über Geld regeln. Sie müssen den Leuten wieder Hoffnung machen, dass es bei entsprechender Anstrengung möglich ist, die persönliche Lage zu verbessern.
Das Interview führte Andrea Krüger, tagesschau.de