Baden-Württemberg "Boomer"-Verrentung: Experte fordert deutliche Anhebung des Renten-Eintrittsalters
Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen fordert angesichts der Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge, das Rentenalter deutlich anzuheben. Andernfalls sieht er große Probleme auf BW und RLP zukommen.
In den kommenden Jahren gehen die geburtenstarken ("Boomer")-Jahrgänge in den Ruhestand. Was das für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bedeutet, zeigt eine SWR-Datenrecherche. Doch warum haben Politik und Wirtschaft nicht früher reagiert? Welche Lösungsansätze gibt es? Und braucht es künftig überhaupt noch so viele Arbeitskräfte? Im SWR-Interview gibt Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg Antworten auf viele entscheidende Fragen.
SWR Aktuell: Mit dem Austritt der sogenannten Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt geht viel Wissen und Erfahrung verloren. Wie groß ist das Problem aus ihrer Sicht?
Bernd Raffelhüschen: Das demografische Problem kann man nicht unterschätzen. Es ist seit Jahrzehnten bekannt, dass wir diese Jahrgänge haben. Wir wussten alles genau und wir tun so, als ob das jetzt wie ein Unfall passiert. Nein, es ist einfach alles klar gewesen und wir hätten die Weichen schon von vornherein ganz anders stellen müssen. Wir sind jetzt eigentlich nicht fünf vor zwölf, sondern fünf nach zwölf. Zu verhindern, dass diese Welle wirklich in einem Schlag schwappt, wird ein ganz schwieriges Unterfangen.
Bernd Raffelhüschen, Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, sitzt vor einer an die Wand projizierten Statistik. Er ist sich sicher, dass die Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge der Wirtschaft Probleme machen wird.
SWR Aktuell: Seit wann sind die Ausmaße bekannt?
Raffelhüschen: Das wurde Anfang der 1990er Jahre prognostiziert. Das heißt, wir wissen es alle seit drei Jahrzehnten.
SWR Aktuell: Da stellt sich natürlich die Frage, warum nicht reagiert wurde?
Raffelhüschen: Die Reaktion ist unpopulär. Denn die Reaktion wäre ja im Grunde genommen gewesen, dass man die geburtenstarken Jahrgänge eben nicht - so wie jetzt mit 66 nach gesetzlichen Rentenzugangsalter - in den Ruhestand lässt, sondern eher nach 67, 68 oder 69. Die Rente mit 70 hätten wir eigentlich schon im Jahr 2030 erreichen müssen. Wir sind ab 2030 bei der Rente mit 67 und das war schon eine mutige Entscheidung von Franz Müntefering (ehemaliger Bundesarbeitsminister, Anmerkung der Redaktion) auf die 67 zu setzen. Sie kam schon zu spät und war nur halbherzig. Wir hätten noch viel mehr machen müssen.
Wir wussten alles genau und wir tun so, als ob das jetzt wie ein Unfall passiert. Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg
SWR Aktuell: Also hat die Politik das Thema einfach ausgeblendet?
Raffelhüschen: Das war eine absolut Vogel-Strauß-Politik und zwar von allen Parteien. Jeder hat sich davor gescheut, den Leuten zu sagen, dass man länger arbeiten muss. Jetzt ist diese Botschaft natürlich umso härter. Denn jetzt müssen wir sagen, dass wir schneller auf eine Erhöhung des Rentenzugangsalter kommen müssen. Denn 2035 oder 2038 ist es zu spät. Dann sind ja alle geburtenstarken Jahrgänge bereits in den Ruhestand getreten.
SWR Aktuell: Kann man da jetzt noch gegensteuern?
Raffelhüschen: Man kann die Uhr tatsächlich noch ein bisschen zurückdrehen, aber das erfordert harte Maßnahmen. Wir müssten heute, jetzt und hier - spätestens mit der nächsten Bundesregierung - beschließen, dass wir das Rentenzugangsalter auf einen Schlag um drei, vier oder fünf Monate pro Jahr entsprechend nach hinten schieben. So könnten wir die älteren Teile der geburtenstarken Jahrgänge noch etwas länger im Arbeitsmarkt halten. Das ist wahrscheinlich das Maximum dessen, was wir verfassungsrechtlich auch machen können - also diese Menschen so schnell und so lange wie möglich im Job zu halten. Denn diese geburtenstarken Jahrgänge bestehen aus vielen Menschen, sie sind hochqualifiziert, und sie sind die gesündesten, ältesten Menschen, die wir jemals in diesem Land gehabt haben.
SWR Aktuell: Wie viele Jahre müssten die Beschäftigten aus ihrer Sicht in Deutschland länger arbeiten?
Wir reden hier wirklich von zwei, drei Jahren. Dass das machbar ist, wissen wir aus skandinavischen Ländern, wo wir diesen Prozess schon längst gegangen sind. Und wir müssen über Frauen reden. Die Frauenerwerbsquote in Deutschland ist inzwischen eine der höchsten der Welt. Wir hatten vor 30 Jahren eine der niedrigsten der Welt. Aber wir haben extrem viel Teilzeitbeschäftigung bei Frauen und da müssen wir vielleicht noch mal drüber reden, dass die Vollzeitquote etwas höher wird.
SWR Aktuell: Gibt es noch weitere Lösungsansätze?
Raffelhüschen: Wichtig wäre die Weitergabe des Wissens innerhalb der Betriebe. Mit den Alten verschwindet Erfahrung, das Kristalline an Intelligenz. Die jungen Leute sind natürlich pfiffiger und gut unterwegs, aber sie müssen die Erfahrung der Alten übernehmen können. Die Weitergabe muss organisiert werden. Das ist aber eine Sache, die man nicht an die Politik richtet, sondern eher an die Betriebe.
SWR Aktuell: Was kann die Wirtschaft, was können die Betriebe selbst machen, um dem entgegenzuwirken?
Raffelhüschen: Die Wirtschaft muss in jedem Fall versuchen, dieses Wissen länger zu halten. Wir müssen den älteren Arbeitnehmern ein Angebot machen, wie sie länger auch in Teilzeitbeschäftigung weiterarbeiten können. Da sind die politischen Hausaufgaben schon gemacht mit den Teil-Rentensystemen. Und wenn es nicht anders geht, müssen wir auch mit den Kleinstjobs, also ehemals 450-Euro-Jobs, agieren. Und dann müssen wir natürlich noch darüber reden, wie wir die Teilzeitbeschäftigungsquote etwas vermindern. Denn im Moment tun wir so, als ob wir mit immer weniger Menschen, die immer kürzere Arbeitszeiten wollen, immer mehr Menschen immer länger versorgen können. Das wird nicht klappen.
Im Moment haben wir für jeden Menschen, der arbeiten will, auch einen Job. Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg
SWR Aktuell: Wir müssen also auch die Menschen, die jetzt nur in Teilzeit arbeiten oder die arbeitslos sind, in den Arbeitsmarkt integrieren?
Raffelhüschen: Wir müssen sie in den Arbeitsmarkt führen. Im Moment haben wir für jeden Menschen, der arbeiten will, auch einen Job. Die Arbeitslosigkeiten - auch in der langen Frist - sind ja eher freiwillige Arbeitslosigkeiten. Wir tun so, als ob wir die Unterqualifizierten jetzt noch qualifizieren müssten. Aber wir haben ja eine Menge unterqualifizierter Jobs, die gar nicht besetzt sind und auch gar nicht besetzt werden, weil wir überhaupt keinen Anreiz setzen, entsprechend in die Beschäftigung zu gehen. Die Bürgergelddiskussion war da ein Signal in die völlig falsche falsche Richtung. Wir müssen den Leuten einfach klarmachen, dass unser Sozialstaat davon ausgeht, dass jeder etwas kann. Und das, was er kann, soll er tun. Und das wird dann entsprechend auch zu einem Einkommen führen. Wenn das dann nicht reicht, werden wir das als Gemeinschaft aufstocken. Aber Aufstocker ist im Moment ein Schimpfwort in Deutschland.
SWR Aktuell: Welche Rolle kann der Zuzug von ausländischen Fachkräften spielen?
Raffelhüschen: Der Zuzug von ausländischen Hochqualifizierten ist eine relativ große Scheindebatte, die da geführt wird. Wir haben die Blue-Card-Regelung in Europa gehabt. Das sind ein paar 100 Menschen, die wir da entsprechend als Hochqualifizierte in Deutschland integrieren. Ein Mensch, der hochqualifiziert ist, nach Deutschland kommt und hier einen Job übernimmt, ist willkommen und sollte auch willkommen sein. Denn er hilft uns, dieses Land am Laufen zu halten. Aber das ist nicht die Realität. Die Realität ist eine ganz andere und der müssen wir uns langsam auch mal stellen. Wir müssen unsere Zuwanderung steuern. Eine junge Zuwanderung, die fertil und qualifiziert ist, ist eine gute Zuwanderung.
SWR Aktuell: Gab es historisch gesehen in der Bundesrepublik schon mal eine vergleichbare Situation wie aktuell?
Raffelhüschen: Diese demografische Welle, wie sie sich in Deutschland jetzt durch die Systeme spült, haben wir so noch nie gehabt. Allerdings: Das ist kein deutsches Phänomen, das ist ein europäisches Phänomen. Wir sind ein komplett alternder Kontinent und wir haben überall dieselben Probleme: Niedrige Geburtenzahlen in den 70ern, 80ern und 90ern, die sich verfestigt haben und natürlich sehr hohe und große Jahrgänge in den ersten Nachkriegsjahrzehnten.
Diese demografische Welle, wie sie sich in Deutschland jetzt durch die Systeme spült, haben wir so noch nie gehabt. Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg
SWR Aktuell: In Baden-Württemberg werden in den kommenden fünf Jahren wohl mehr als eine halbe Million Menschen in den Ruhestand gehen. Brauchen wir denn angesichts der technischen Entwicklungen und der sich verändernden Berufe überhaupt weiterhin so viel Personal?
Raffelhüschen: Wir wissen natürlich, dass der technische Fortschritt im Prinzip kapitalvermehrend ist. Wir können mit immer weniger Menschen immer mehr Güter und Dienstleistungen schaffen. Das ist eine Entwicklung, die wir schon immer hatten. Der Produktivitätsfortschritt hat uns immer dazu gebracht, zu gewinnen. Dieser Produktivitätsfortschritt wird in Zukunft nicht mehr als eineinhalb, vielleicht maximal zwei Prozent im Jahr bringen. Das wird die entsprechenden demografischen Effekte nicht übertünchen können.
SWR Aktuell: Welche Branchen sehen Sie besonders gefährdet, gerade mit Blick auf Baden-Württemberg?
Raffelhüschen: Wenn wir davon ausgehen, dass die Industriestruktur so erhalten bleibt, wie sie im Moment ist, dann haben wir in Baden-Württemberg natürlich Probleme in der Automobilindustrie mitsamt ihrer Zulieferer. Dort ist ein Strukturwandel massiv im Laufen. Über alle Produktionsfelder hinweg haben wir einen massiven Facharbeitermangel in den entsprechenden arbeitsintensiven Dienstleistungsbereichen. Dort drückt der Schuh am am härtesten.
SWR Aktuell: Meinen Sie damit das Handwerk oder was sehen Sie da konkret?
Raffelhüschen: Handwerk hat schon immer ein Problem gehabt und dieses wird sich noch verstärken. Wir schicken ja inzwischen fast zwei Drittel eines Jahrgangs auf die Universitäten. Das führt dann dazu, dass wir eine Akademisierung haben. Und wenn wir dann das Handwerk so ausbluten lassen, dann sieht es natürlich sehr böse aus mit dem Nachwuchs. Das Handwerk hat aber nicht nur auf dem Angestellten-Sektor ein Problem, sondern es hat natürlich auch ein Nachfolgeproblem. Die Familien funktionieren in der Weitergabe der Betriebe nicht mehr so richtig, und zwar sowohl bei kleinen wie auch bei mittleren Familienbetrieben. Das sind Dinge, die durch den demografischen Wandel nur verstärkt werden. Der demografische Wandel ist da nicht die Ursache.
SWR Aktuell: Stehen wir dann in 10 bis 20 Jahren ohne Handwerk und Automobilbranche da?
Raffelhüschen: Nein. Das wird mit Sicherheit nicht der Fall sein. Aber die Automobilbranche und seine Zulieferer sind natürlich auf den Verbrennermotor abgestimmt. Da werden wir schon einen Abbau an Arbeitskräften haben. Die freigesetzten Arbeiter werden aber mit Sicherheit Jobs finden, denn wir haben Jobs. Wir haben ja eher einen Mangel an Händen.
SWR Aktuell: In welchen Bereichen könnten diese Leute dann unterkommen?
Raffelhüschen: Das ist schwierig zu sagen, weil wir wissen ja nicht, welche Innovationen in Deutschland tatsächlich Fuß fassen und noch Arbeitsplätze schaffen werden. Das ist etwas, was wir Wissenschaftler ihnen auch nicht sagen können. Wir wissen nur, dass der Strukturwandel vor der Haustür steht und eigentlich schon längst stattfindet. Und dass wir politische Entscheidungen haben, die nicht besonders clever sind, was die industrielle Entwicklung in Deutschland angeht.
SWR Aktuell: Aber Bundesländer wie Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz stehen noch besser da als andere Bundesländer?
Raffelhüschen: Das würde ich auch vermuten. Süddeutschland, Bayern, Baden-Württemberg sind die Motoren Deutschlands - in alle Richtungen. Doch selbst wenn wir dort aus einer guten Position starten: Auch bei der Formel 1 kann man von der Pole Position ziemlich schnell abfallen.
Europa ist ein sehr alter und kranker Kontinent, der wirklich immer mehr auf Planwirtschaft und Subventionen setzt. Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg
SWR Aktuell: Wagen wir den Blick in die Glaskugel. Wo steht Deutschland in 20 Jahren?
Raffelhüschen: Deutschland wird im europäischen Vergleich noch einigermaßen gut dastehen. Europa wird deutlich in seinem Gewicht weltweit abnehmen. Europa ist ein sehr alter und kranker Kontinent, der wirklich immer mehr auf Planwirtschaft und Subventionen setzt und nicht so sehr auf marktliberale oder soziale marktwirtschaftliche Prozesse. Wir werden gemeinsam mit Europa im Gewicht abnehmen. Die soziale Marktwirtschaft, die liberale Marktwirtschaft, das war unser Leitbild, und das hat uns reich gemacht. Wenn wir das wiederbeleben könnten, dann hätten wir eine Menge gewonnen.
Sendung am Do., 21.11.2024 5:00 Uhr, Guten Morgen Baden-Württemberg, SWR1 Baden-Württemberg