Hessen ALS-Patienten und Gamer mit Behinderung: Hacker entwickeln günstige Eyetracking-Lösung für mehr Teilhabe
Manche Menschen können nur noch ihre Augen bewegen. Für sie haben Computer-Enthusiasten in Wiesbaden eine günstige Brille entwickelt, mit der Programme mit den Augen gesteuert werden können. Auch Gamer mit schwerer Behinderung profitieren davon.
"Für viele Menschen – mich eingeschlossen – ist das einfach ein totales Horrorszenario, nur noch die Augen benutzen zu können", sagt Christian Schuster.
Er arbeitet als IT-Experte im sozialen Bereich und engagiert sich in seiner Freizeit im Chaos Computer Club (CCC) in Wiesbaden beim Projekt "Gaming and (Dis)abilities."
Schon länger tüftelt er an Lösungen, die das Computerspielen für Menschen mit schwerer Behinderung allgemein einfacher machen.
Kommunikation für ALS-Patienten ermöglichen
Mit seinen Überlegungen sei er bald bei Menschen gelandet, die sich gar nicht bewegen oder mitteilen können, wie Patienten mit der nicht heilbaren Nervenkrankheit ALS oder Wachkomapatienten – Menschen, die nur über ihre Augen kommunizieren.
"Wir wollen ihnen ermöglichen, sich mitzuteilen", sagt Schuster. "Und zwar nicht nur Ja oder Nein, wie sie das mit Augenblinzeln können, sondern auch komplexere Sachverhalte." Die Patienten sollen auf sich aufmerksam machen können, auch wenn gerade niemand Augenkontakt zu ihnen hält.
Alle zwei Jahre werden damit bundesweite Projekte geehrt, die Alltag, Berufsleben und Infrastruktur durch innovative Ansätze barrierefreier und ästhetischer gestalten.
Bekannt durch Stephen Hawking
Die Methode der Wahl ist das so genannte Eyetracking, bei dem die Augen über eine Kamera zum Beispiel eine Computertastatur steuern können.
Technisch neu ist das nicht, schon der bekannte britische Astrophysiker Stephen Hawking etwa, der auch an ALS litt, arbeitete im Zuge seiner fortschreitenden Krankheit mit Eyetracking.
Außerdem gibt es auf dem Markt viele kommerzielle Produkte. Diese sind aber mehr auf das Thema Marktforschung ausgelegt und nicht auf die Bedürfnisse behinderter oder kranker Menschen.
Bezahlbare Möglichkeiten für alle
Außerdem kosten sie viel Geld, für einen Eyetracker kommen schnell mehrere hundert Euro zusammen.
Gerade Angehörige von ALS-Patienten müssten mit fortschreitender Krankheit immer mehr Hilfsmittel mitfinanzieren, sagt Schuster. "Am Ende ist dann oft kein Geld mehr in den Familien da."
Projektgruppe "Eyes on (Dis)abilities": (v.l.): Samule Alp, Marvin Bernshausen und Christian Schuster in ihrer Werkstatt beim CCC Wiesbaden
"Wir erfinden hier nichts neu", betont der IT-Experte Die Innovation liege darin, die Technik zugänglich zu machen und "die bestehenden Möglichkeiten für alle günstig nachzubauen".
Liste zählt wichtige Tools auf
Dazu haben Schuster und zwei Mitstreiter beim CCC Wiesbaden in ehrenamtlicher Arbeit zunächst das Internet durchforstet, was es an kostenloser und allgemein zugänglicher (Open Source) Software schon gibt.
"Und das war viel, man muss es nur finden", sagt er. "Wir haben jetzt alles auf eine Liste gepackt." So gebe es Software, um Tastaturen zu bedienen. Und Software für das Eyetracking.
Was es nicht gegeben habe, so Schuster, sei eine Verbindung zwischen den Programmen. "Damit sie miteinander sprechen können."
Laptop, Brille und eine Kamera
Um dieses Problem zu lösen, schrieb Software-Entwickler und CCC-Mitstreiter Marvin Bernshausen eine Schnittstelle.
Die Software "Miranda" ist frei zugänglich und steht kostenlos zur Verfügung. Wie mit einem Baukasten können Menschen sich so ihren eigenen Eyetracker zusammenbauen.
Dafür brauche es lediglich ein funktionierendes Laptop, eine Kamera mit Infrarot-LEDs, ein altes Brillengestell, die kostenlose Software aus dem Internet und "Miranda", sagt CCC Wiesbaden-Sprecher Schuster.
Die Minikamera mit Infrarot-LEDs ist schon ab rund sechs Euro zu haben.
Teilhabe ermöglichen
Er und seine Mitstreiter arbeiten ehrenamtlich an dem Projekt, jeder bis zu zehn Stunden wöchentlich. "Eigentlich finden wir es falsch, wenn die Zivilgesellschaft staatliche Aufgaben löst", so Schuster.
Im speziellen Einzelfall sei es aber "total grausam, das nicht anzugehen, wenn wir es doch können". Selbst ein Produkt auf den Markt bringen, wollten sie nicht.
Sie könnten sich auch vorstellen, beim Bau in kleiner Stückzahl und bei der Installation zu helfen, wenn Angehörige oder Pflegepersonal damit überfordert seien. "Denn die müssen das letztlich für die Patienten machen. Uns geht es um Teilhabe."
Auch Gaming soll für alle zugänglich sein
Teilhabe ist ein Schlüsselbegriff, der die IT-Experten beim CCC Wiesbaden auch beim Thema Computerspiele beschäftigt. Denn nicht nur ALS-Patienten könnten von einem Eyetracker profitieren.
Auch Menschen, die aufgrund einer Behinderung Arme oder Hände nicht oder nicht vollständig einsetzen und etwa keinen Controller halten können, hätten mit dem Eyetracking eine zusätzliche Bedienmöglichkeit.
"Als Projektteam wissen wir aus erster Hand, wie oft Menschen mit Behinderungen beim Gaming außen vor bleiben", so Schuster. Dabei sei "Zocken" eine universelle Freizeitbeschäftigung.
Getestet und für gut befunden haben die Hacker vom CCC den Einsatz des Eyetrackers etwa beim Spiel Minecraft. "Das ist das meistverkaufte Spiel der Welt und lässt eine solche Anwendung zu."
Computerspiele sollen barrierefreier werden
Für die Zukunft wünschen sie sich, dass die Spiele an sich schon barrierefreier und individuelle Bedienlösungen ermöglicht werden.
"Gaming ist die am meisten verbreitete Freizeitaktivität und ein wunderbares Medium, um Menschen zusammenzubringen, Geschichten zu erleben und kreativ zu sein", sagt Experte Schuster. "Deswegen ist der Zugang dazu auch so wichtig. Barrierefreiheit ist kein Nischenthema."
5.440 Menschen leben mit einem Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen als schwerste Behinderung, 48.310 Menschen mit einer Funktionseinschränkung von Gliedmaßen.