Ein Fleischer sitzt im Büro vor einem Computer.

Sachsen-Anhalt Bürokratie im Handwerk: "Man hat das Gefühl, niemals fertig zu werden"

Stand: 28.10.2024 08:50 Uhr

Jedes Rind bringt Papier mit sich und jedes Putztuch auch. Unternehmer im Handwerk in Sachsen-Anhalt ärgern sich über wachsende Bürokratie – auch in der Gebäudereinigung und in Fleischereien. Die Folge: Mehrarbeit und Men-Power, die oft nicht vorhanden ist. Sachsen-Anhalt will Bürokratie abbauen und hat ein Meldeportal eingerichtet. Doch im Handwerk sehnt man sich eher nach einem offenen Dialog.

Von Maximilian Fürstenberg und Beatrix Heykeroth, MDR SACHSEN-ANHALT

Kondenswasser läuft die sterilen, weißen Fliesen der Wände herunter. Von der Decke tropft es. Direkt darunter hängt an einem mächtigen Haken ein mehrere hunderte Kilo schweres Rind. Kopf und Innereien fehlen bereits. Für Fleischermeister Marcel Schreiber geht es jetzt an die Säge – das Rind wird mittig geteilt.

Der Arbeitstag in der Fleischerei in Mücheln hat für den Mann in Fleischerhemd und Schürze bereits um drei Uhr nachts angefangen. Schichtende wird gegen 18:30 Uhr sein, erzählt Marcel Schreiber MDR SACHSEN-ANHALT, denn das Rind muss direkt verarbeitet werden. Feierabend ist dann allerdings nicht: So ein Rind bringt nämlich nicht nur Fleisch, sondern auch jede Menge Papierkram mit sich.

Ein Fleischer zersägt einen Rinderrumpf.

Der Betrieb von Fleischermeister Marcel Schreiber ist nach seinen Angaben der einzige im Saalekreis, der auch Rinder schlachtet.

Jedes Rind bringt neben Fleisch auch Papierkram mit sich

Eine Etage über dem Schlachtraum hat sich Schreiber ein kleines Büro eingerichtet. Der wenige Platz ist ausgefüllt mit Regalen voller Aktenordner in unterschiedlichen Farben und einem Schreibtisch mit noch mehr Akten darauf. Als Schreiber 2012 seine Fleischerei eröffnet hat, saß er nach seinem Tagwerk abends 20 Minuten im Büro, erklärt er. Jetzt brauche er mehr als eine Stunde für den Papierkram. Über die zehn Jahre ist die Bürokratie immer mehr geworden, beklagt Schreiber: "Ich habe 70 Stunden, manchmal 80 Stunden in der Woche, die ich im Betrieb arbeite und dann mache ich noch die Schreibbürokratie. Das ist für mich mehr geworden."

Ein Fleischer sitzt im Büro vor einem Computer.

Laut Fleischermeister Marcel Schreiber ist die Bürokratie vielfältiger geworden. In seinem kleinen Büro muss alles dokumentiert werden.

Für jedes Rind müssen Rinderpässe ausgefüllt werden, ein Schlachttagebuch geführt und das Rind abgemeldet werden, sagt er. Das könne er noch nachvollziehen. Was Schreiber aber als wenig sinnvoll erachtet: Alles, was in seinem 10-Mann-Betrieb passiert, muss penibel für das Veterinäramt dokumentiert werden. "Meine Leute bleiben immer gleich, die wissen, was sie machen müssen, aber jetzt muss alles abgeheftet sein", so Schreiber.

Ich habe 70 Stunden, manchmal 80 Stunden in der Woche, die ich im Betrieb arbeite und dann mache ich noch die Schreibbürokratie. Das ist für mich mehr geworden. Marcel Schreiber | Fleischermeister aus Mücheln

Und so müssen jeden Tag beispielsweise Herstellungsprotokolle, Erhitzungsprotokolle und Reinigungsprotokolle ausgefüllt werden. Bei letzterem muss für jeden Tag, für jeden Raum dokumentiert sein, wer, was, mit welchem Reinigungsmittel geputzt hat. "Das muss jeden Tag geschrieben werden. Wenn wir es an einem Tag nicht schaffen, dann machen wir es definitiv am nächsten, weil das staut sich alles auf", sagt der 45-Jährige.

Ein Schlachtagebuch.

Ein Schlachttagebuch: Jedes Rind und jedes Schwein werden hier mit dem Gewicht und einer Nummer festgehalten.

Bürokratie ist im Handwerk Problem Nummer 1

So wie Marcel Schreiber klagen auch viele andere Inhaber von Handwerksbetrieben über zunehmende Bürokratie. Die Kreishandwerkerschaft Börde etwa hat im Frühjahr ihre 500 Mitglieder befragt. Als Problem Nummer 1 wurde die wachsende Bürokratie genannt.

Zurück in den Süden Sachsen-Anhalts, ein paar Kilometer entfernt von Mücheln: In der Zentrale der HT-Service Gebäudereinigung in Halle sehen die Probleme mit der Bürokratie nicht anders aus. Zwar hat der Betrieb mit gut 750 Mitarbeitern deutlich mehr Kräfte für die Bürokratie als der kleine Fleischereibetrieb von Marcel Schreiber, doch die Papierstapel werden auch hier nicht weniger, wie Kathleen Berngruber MDR SACHSEN-ANHALT erzählt.

Eine Frau steht vor ihrem Schreibtisch und telefoniert.

Geschäftsführerin Kathleen Berngruber ist die Erste, die kommt und meist die Letzte, die geht.

Die Geschäftsführerin ist, wie sie sagt, meist eine der Ersten, die morgens um sieben Uhr kommt – und eine der Letzten, die gegen 19:30 Uhr wieder geht. "Die Bürokratie wird immer verworrener und nimmt in ihrer Vielfältigkeit immer mehr zu", sagt sie. Eingehalten werden müssen Richtlinien und Gesetze vom Land und von der EU – und nun Luft holen – wie etwa:

Protokolle, Gesetze und Richtlinien lenken vom Tagesgeschäft ab

Die Liste ist lang – und wird immer länger. "Man hat das Gefühl, dass man einfach niemals fertig wird", so Berngruber. Ein Beispiel: Bevor die elektronischen Krankschreibungen eingeführt wurden, musste der Arbeitnehmer seine Krankschreibung im Betrieb vorlegen.

Man hat das Gefühl, dass man einfach niemals fertig wird. Kathleen Berngruber | Geschäftsführerin HT-Service Gebäudereinigung

Nun ist es andersherum: Berngruber muss nun bei den Krankenkassen erfragen, ob ihre Mitarbeiter tatsächlich krank sind. Für sie fühlt sich das an, als sei eine weitere Aufgabe auf sie abgewälzt worden: "Wir haben aufwendig die elektronische Krankschreibung abzufragen, immer wieder aufs Neue und merken, dass sehr viel Zeitverzug und eine hohe Fehlerquote dabei ist. Dass die Daten nicht aktuell bereitgestellt werden, führt bei uns zu Wiederholungsprozessen, zu vielen Kontrollen und personellem Aufwand."

Eine Frau wringt ein Putztuch aus.

Wenn die gebrauchten Putztücher gewaschen werden, dann muss dokumentiert werden, wie viel Wasser dafür gebraucht wurde.

Ähnlich wie Fleischermeister Marcel Schreiber, muss auch Kathleen Berngruber alles in ihrem Betrieb protokollieren. Wegen beispielsweise eingeführter Nachhaltigkeitsgesetze (ESG-Richtlinien) muss ihr Betrieb erfassen, wie viel Frischwasser und Schmutzwasser sie – beispielsweise beim Reinigen von Putztüchern – verbraucht. Das kostet "Menpower", wie die Geschäftsführerin sagt: "Das ist eine Vielzahl von Belastungen, die unser Betrieb aufs Tagesgeschäft noch aufgebürdet bekommt. Das ist im Tagesgeschäft, wo man sich eigentlich auf die Mitarbeiter konzentrieren sollte, nicht mehr zu händeln."

Wirtschaftsministerium: "Wir arbeiten daran, Regelungen anwenderfreundlicher zu gestalten"

Im Wirtschaftsministerium Sachsen-Anhalt weiß man um die Probleme mit der Bürokratie im Handwerk. So sagt eine Sprecherin MDR SACHSEN-ANHALT: "Uns ist bewusst, dass bürokratische Belastungen im Handwerk eine Herausforderung darstellen können. Insbesondere bei kleinen Betrieben sind die statistischen Meldepflichten ein wiederkehrendes Thema, auf das wir angesprochen werden." Weiter heißt es, dass das Land Sachsen-Anhalt wenig Einfluss auf die Bürokratie hat, denn die meisten Vorgaben beruhten auf Bundesrecht.

Auch dort, wo diese Gesetze gemacht werden, hat man die Zeichen der Zeit erkannt: Der Bundestag hat Ende September ein Gesetz der Bundesregierung beschlossen, das Bürokratie abbauen soll. Sogenannte Aufbewahrungsfristen für Belege, zum Beispiel für die Steuer, werden damit verkürzt, um nur ein Beispiel zu nennen. Allerdings: Dass das noch nicht reicht, machte seinerzeit auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) klar – verwies aber auch auf zahlreiche bürokratische Regeln, die die Europäische Union vorgibt.

Stichwort: Bürokratieentlastungsgesetz – das steht drin

Nach dem Bundestag Ende September hat vergangene Woche auch der Bundesrat, also die Länderkammer, dem "Bürokratieentlastungsgesetz" der Bundesregierung zugestimmt. Damit kann es in Kraft treten. Das Gesetz sieht mehrere Punkte vor, die die Betriebe in Deutschland um jährlich 944 Millionen Euro entlasten sollen – so sagt es das Bundesjustizministerium.

Geplant ist, zum Beispiel:

  • Steuerbescheide werden digital: Steuerbehörden sollen die Steuerbescheide künftig auch digital bereitstellen dürfen. Die Folge: Laut Bundesregierung müssen nicht mehr 116 Millionen Briefe versendet werden.
  • Keine Meldepflicht mehr in Hotels: Wer im Hotel eincheckt, muss bislang einen Meldeschein ausfüllen. Diese Pflicht entfällt ab kommendem Jahr, zumindest für deutsche Staatsangehörige.
  • Datenbanken für Steuerberater: Künftig soll es eine zentrale Datenbank für Vollmachten für Steuerberater geben. Arbeitgeber sollen so entlastet werden, weil sie keine einzelnen schriftlichen Vollmachten mehr ausstellen müssen.

Trotzdem setzt sich auch Sachsen-Anhalt für den Abbau von Bürokratie ein. So soll ein Normenkontrollrat gegründet werden. Der soll den bürokratischen Aufwand von Landesregelungen bewerten und reduzieren, heißt es vom Ministerium. "Wir arbeiten kontinuierlich daran, Regelungen auf Landesebene verständlicher und anwenderfreundlicher zu gestalten und setzen uns im Rahmen unserer Möglichkeiten aktiv für Verbesserungen ein, um Handwerksbetriebe und Unternehmen bestmöglich zu unterstützen", so eine Sprecherin.

Wir arbeiten kontinuierlich daran, Regelungen auf Landesebene verständlicher und anwenderfreundlicher zu gestalten und setzen uns im Rahmen unserer Möglichkeiten aktiv für Verbesserungen ein, um Handwerksbetriebe und Unternehmen bestmöglich zu unterstützen. Ministerium für Wirtschaft Sachsen-Anhalt |

Um Bürokratie abzubauen, hat die Landesregierung ein Meldeportal eingerichtet. Jeder, der in Sachsen-Anhalt problematische oder überflüssige Bürokratie entdeckt, könne dies über eine Webseite melden. Denn der konsequente Abbau von Bürokratie ist auch im Koalitionsvertrag von CDU, SPD und FDP festgehalten. Doch im Handwerk scheint das Portal auf wenig Interesse zu stoßen.

Menschen im Handwerk: "Wünschen uns klare Regeln"

Kathleen Berngruber hält ein solches Portal für wenig sinnvoll, sagt sie. "Ich würde es als sinnvoller erachten, wenn die Politik sich nach Draußen begibt und den Unternehmen zuhört", so die Geschäftsführerin. Ein offener Dialog würde zu mehr führen und zeigen, wie vielsichtig die Probleme sind, "als wenn ich das in kurzen Worten in 1.000 Zeichen erklären soll."

Eine Frau läuft mit einem Stapel Akten in der Hand durch ihr Büro.

Berngruber wünscht sich einen offenen Dialog, um Probleme mit der Bürokratie direkt anzusprechen.

Klare Regeln – das ist der Wunsch, den sie für das Handwerk hat. Und die sollen möglichst händelbar sein und kurze Dienstwege beinhalten. Das würde so auch Fleischermeister Marcel Schreiber unterschreiben. Beide haben seit längerem das Gefühl, dass die, die die Gesetze machen, kein Vertrauen mehr in die Betriebe haben. "Ich werde doch definitiv keine Wurst in mein Geschäft geben, wo ich nicht davon ausgehe, dass die durchgekocht ist. Da würde ich mir ja selber schaden. Aber wir müssen es vorher aufschreiben – es ist ja Vorschrift", so Schreiber.

Drei Fleischer verarbeiten Fleisch zu Wurst.

In der Fleischerei ist selten früh Feierabend für Marcel Schreiber. Die Bürozeit hängt er an sein Tagwerk an.

Den beiden ist klar, dass es im Papierdschungel niemals ein Ende geben wird. "Wir haben etwas erfüllt, dann dauert es nicht lange und dann lässt sich irgendjemand etwas Neues einfallen. Dann schreiben wir wieder neue Protokolle", erklärt Schreiber, während er die letzten Kochwürste verpackt. Der heutige Feierabend liegt noch in weiter Ferne.

MDR (Maximilian Fürstenberg) | Erstmals veröffentlicht am 27.10.2024