Politische Häftlinge Kameras aus DDR-Zwangsarbeit im Otto-Katalog?
Der Otto-Konzern soll DDR-Kameras vertrieben haben, die zum Teil durch Zwangsarbeit in Gefängnissen gefertigt worden sind. Dies geht aus einem Bericht der SED-Opferbeauftragten hervor. MDR Investigativ ist der Spur der Fotoapparate gefolgt.
Das Zuchthaus Cottbus war eines der größten politischen Gefängnisse der DDR. Mehrere tausend Menschen waren dort eingesperrt. Fast alle mussten harte Zwangsarbeit leisten - an Stanzmaschinen und mit einfachen Werkzeugen für den Volkseigenen Betrieb (VEB) Pentacon.
Seit 1964 stellten Häftlinge unter primitiven Bedingungen die Gehäuse für Praktica-Kameras her. Wer sich dieser Arbeit verweigerte oder die Norm nicht schaffte, wurde bestraft: mit Essensentzug oder Arrest. Es gab kaum Arbeitsschutz und nur eine geringe Entlohnung.
Der Otto-Versand soll Praktica-Kameras verkauft haben, an denen auch Häftlinge in der DDR unter Zwang gearbeitet haben. Dies geht aus einem Bericht hervor, den die SED-Opferbeauftragte des Bundestages, Evelyn Zupke, vor Kurzem vorgestellt hat.
Dieter Dombrowski war ab August 1974 für 17 Monate im Zuchthaus Cottbus inhaftiert. Der heute 72-Jährige ist wegen Republikflucht und staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme verurteilt worden. "Wir haben das hier natürlich ertragen müssen, hatten keine Möglichkeit, uns zu beschweren", sagt er. "Es gab viele Verletzungen mit diesen scharfen Geräten."
Auch er habe sich eine Fleischwunde zugezogen und schaut dabei hinunter zu seiner linken Hand. Im Gefängnis sei es ein offenes Geheimnis gewesen, dass die Praktica-Kameras auch in der Bundesrepublik verkauft wurden.
Dieter Dombrowski hat sich der Aufarbeitung von DDR-Verbrechen verschrieben.
Gute DDR-Geräte gingen in den Westen
"In der DDR wusste eigentlich fast jeder Bürger, dass die guten Sachen, die produziert wurden, die gab es ja auch in der DDR, in der Regel immer irgendwie in den Westen gegangen sind", berichtet Dombrowski. "Das ging beim Schweinefleisch los, eben Maschinenprodukte bis hin zu solchen Geräten." Die Praktica-Kameras seien damals gute Fotoapparate auf der Höhe der Zeit gewesen.
Hat der Otto-Versand Kameras verkauft, an denen Häftlinge in der DDR gearbeitet haben? In den Katalogen von damals finden sich Fotoapparate, deren Gehäuse auch in Häftlingsarbeit gefertigt wurden. Im Zuchthaus Cottbus gab es 40 Maschinen für die Stanzvorgänge, im Pentacon-Stammwerk Dresden nur zehn. Deshalb entstanden sehr viele Gehäuse für Praktica-Kameras durch die Arbeitsleistung von Häftlingen.
Ein Interview mit MDR Investigativ vor der Kamera lehnte das Hamburger Handels- und Dienstleistungsunternehmen ab. Stattdessen heißt es schriftlich: "Bei den vom damaligen Otto-Versand vertriebenen Praktica-Modellen besteht [...] eine hinreichend große Wahrscheinlichkeit, dass diese gar keine Teile aus Häftlingsarbeit enthielten. Hieran hat sich bis zum heutigen Tage nichts geändert, jede anders lautende Behauptung ist falsch."
Bundesbeauftrage: Aktenlage belegt Vertrieb von Otto
Dem widerspricht die Bundesbeauftragte für SED-Opfer, Evelyn Zupke: "Bei der Firma Otto haben wir eine sehr gute Aktenlage" - und die belege "ganz deutlich, dass diese Apparate, diese Produkte, auch von der Firma Otto vertrieben wurden."
Die Bundesbeauftragte hat auch untersucht, wie Unternehmen aus dem Westen, Produkte aus der preiswerten Häftlingsarbeit in der DDR vertrieben haben. Mehrere hundert Firmen waren an diesem Handel beteiligt.
Nur wenige, wie Ikea und die Deutsche Bahn, bekannten sich später zu ihrer historischen Verantwortung. Diese bestehe nach derzeitigem Erkenntnisstand für Otto nicht, argumentiert der Logistikgroßhändler aus Hamburg.
"Für die Firma Otto mag es nur eine Fußnote in ihrer Firmengeschichte sein", sagt Zupke. "Für die ehemaligen politischen Häftlinge, die dort gearbeitet haben und die einen Aufenthalt im Gefängnis hatten, ist es natürlich eine Weichenstellung für das gesamte Leben gewesen." Denn die Menschen hätten mit den körperlichen und psychischen Schäden bis heute zu kämpfen.
Enthüllung über Arbeit von Häftlingen
Der VEB Pentacon präsentierte die Praktica-Kameras auch auf Messen in der Bundesrepublik. Dort waren die preiswerten und qualitativ hochwertigen Kameras aus der DDR sehr begehrt.
Fertigungsleiter Volker Wecker war bei Pentacon für den Kundendienst im Westen zuständig und sagt heute: "Die Stückzahlen, die in der Bundesrepublik verkauft wurden, waren wirklich Jahr für Jahr eine Steigerung. Bis wir dann als Pentacon keine Steigerung mehr machen konnten. Die Wünsche konnten wir nicht mehr erfüllen."
Praktica-Kameras waren in der Bundesrepublik sehr begehrt.
1976 enthüllte der Branchendienst "Markt intern", dass der VEB Pentacon Dresden "600 politische Gefangene beschäftigt". Die "Arbeitsbedingungen sollen primitiv sein", heißt es in einem Schreiben von damals. Es gebe Verletzungen wie "abgetrennte Finger, durchstochene Hände oder Metallsplitter im Auge".
Die Veröffentlichungen von "Markt intern" zeigten Wirkung: Ein Fotohändler aus Süddeutschland war "schockiert", wie Dokumente belegen, die MDR Investigativ vorliegen. Der Händler kündigte an, keine Praktica-Kameras mehr verkaufen zu wollen, die unter "menschenunwürdigen Verhältnissen" hergestellt werden. Andere Medien berichteten ebenfalls.
So wurde etwa im ZDF im April 1979 Klaus Schreiner interviewt, ein vom Westen freigekaufter ehemaliger politischer Häftling.
Im Zuchthaus Cottbus hatte er an Kameragehäusen gearbeitet und er sagte, dass die Kamera so billig sei, weil sie von Häftlingen in Cottbus hergestellt werde. "Die Häftlinge bekommen für diese Arbeit 60 bis 80 Mark pro Monat und müssen nach einem Akkordsystem, also einem Produktionssystem westlicher Art, was ja in der DDR verteufelt wird, arbeiten und bei einer Verpflegung, die nicht vorn und nicht hinten reicht."
Otto bestreitet Vorwürfe
Otto bestreitet, davon gewusst zu haben und teilte dazu mit: "Die angesprochene 'Markt intern'-Veröffentlichung ist jedenfalls nur im Fotofachhandel verbreitet worden, daher ist sie wahrscheinlich bei uns gar nicht wahrgenommen worden." Aktuell wirbt das Unternehmen mit Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein und bemüht sich um ein verantwortungsvolles Image.
Dombrowski, der damals im Zuchthaus Cottbus saß, leitet heute die Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft. Er empfindet das Agieren des Unternehmens als Doppelmoral:
"Die Firma Otto hat sich um soziale, humanitäre und ethisch Belange nie gekümmert, weder vor 40 Jahren noch heute. Für Menschen, die in dieser Art als unschuldig inhaftierte Menschen zur Zwangsarbeit gezwungen wurden, unter Androhung von drakonischen Strafen, ist es eine doppelte Bestrafung und Missachtung und Verletzung ihrer Menschenwürde, heute so von einem Weltunternehmen behandelt zu werden."
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