Sendungsbild
exklusiv

Terroranschlag von Hanau Tödliche Versäumnisse beim Notruf?

Stand: 28.01.2021 06:00 Uhr

Neun Menschen wurden beim Terroranschlag in Hanau getötet. Monitor-Recherchen zeigen nun: Der Polizeinotruf war überlastet und offenbar nicht ausreichend besetzt. Experten sehen schwere Versäumnisse.

Von Von Herbert Kordes und Jochen Taßler, WDR, Adrian Oeser und Marcin Wierzchowski, HR

Als ein rassistischer Attentäter am Abend des 19. Februar 2020 in Hanau neun Menschen ermordete, wurden zwischen 21.55 Uhr und 22.09 Uhr gerade einmal fünf Anrufe über den Polizeinotruf 110 registriert. Das zeigt eine Dokumentation der Notrufe, die dem ARD-Magazin Monitor, dem HR und dem "Spiegel" vorliegen. Offenbar sind aber viele Anrufe nicht durchgekommen. Zahlreiche Zeugen berichten unabhängig voneinander, dass die 110 während der Tatzeit nicht erreichbar gewesen sei.

Unter den Anrufern, die mehrfach erfolglos versuchten, die Polizei zu erreichen, war auch der 22-jährige Vili-Viorel Păun. Während er den Attentäter in seinem Auto verfolgte, wählte er mehrfach erfolglos den Polizeinotruf, wie sich aus seinen Handydaten entnehmen lässt. Wenig später wurde er vom Täter erschossen. Danach ermordete dieser weitere Opfer in einem Kiosk und einer Bar.

Rufumleitung nicht eingerichtet

Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, kann nicht nachvollziehen, warum der Polizeinotruf nicht erreichbar war: Es sei "nicht unwahrscheinlich", dass man mit mehr Kenntnis von Zeugen auch "Gelegenheiten gehabt hätte, nachfolgende Taten noch zu verhindern".

Das Polizeipräsidium Südosthessen räumte auf Nachfrage ein, es sei "bei sehr hohem Anrufaufkommen" nicht auszuschließen, dass "Notrufe im Einzelfall nicht direkt angenommen werden können". Dass es sich angesichts lediglich fünf angenommener Anrufe im Tatzeitraum nur um Einzelfälle handelt, scheint indes fraglich. So konnten in der Tatnacht nach den vorliegenden Dokumenten nur an zwei Apparaten Notrufe entgegengenommen werden, und auch diese waren offenbar nicht durchgängig besetzt.

Eine Rufumleitung zu einer Leitstelle war nicht eingerichtet. Zudem wurden zahlreiche erfolglose Anrufversuche in der Tatnacht nicht einmal registriert oder aufgezeichnet. So wurde im unmittelbaren Anschluss an den Terroranschlag im Zeitraum von über einer Stunde nicht ein einziger Anruf mit Tatbezug registriert.

Behörden geloben Aufklärung

All das sei "zutiefst irritierend", sagt Fiedler. Notrufe müssten von professionellen Leitstellen entgegengenommen werden. Umleitungen dorthin seien "eigentlich seit Jahrzehnten Standard". Wie es dazu kommen konnte, dass das ausgerechnet in Hanau nicht der Fall war, müsse aufgeklärt werden.

Aufklärung fordert auch die Fraktionsvorsitzende der SPD im Hessischen Landtag, Nancy Faeser: "So etwas darf nicht passieren. Wie kann es sein, dass im Jahre 2020 Polizeibehörden mit völlig aus der Zeit gefallenen Notrufsystemen arbeiten?" Die hessischen Behörden müssten die Vorgänge nun aufklären, sagte Faeser. "Was ist in der Nacht schiefgelaufen? Was wird dafür getan, dass das besser wird?"

Behoben ist das Problem der Überlastung bei hohem Anrufaufkommen in Hanau auch ein Jahr nach dem Attentat offenbar nicht. Die Polizei teilt auf Nachfrage nur mit, ein "Überleitungssystem" für Notrufe sei "geplant".

Warum war der Notausgang verschlossen?

Ob Vili-Viorel Paun oder spätere Mordopfer noch leben könnten, wenn der Notruf an jenem Abend funktioniert hätte? Die Frage sei "hypothetisch" und lasse sich nicht seriös beantworten, schreibt das zuständige Polizeipräsidium Südosthessen auf Anfrage. Klar ist: Tobias R. hatte genug Zeit, um anschließend in einem Kiosk und der angrenzenden Arena-Bar fünf weitere Menschen zu erschießen und mehrere schwer zu verletzen. Dabei spielte ihm auch ein verschlossener Notausgang in die Hände.

Etris Hashemi war in der Bar, als draußen die Schüsse fielen. Er sah den Attentäter im benachbarten Kiosk und warnte die anderen Gäste in der Arena-Bar - doch sie saßen in der Falle: Der Notausgang war verschlossen - und das nicht zum ersten Mal: "Das war bekannt hier, dass der Notausgang zu ist. Das wusste jeder, der tagtäglich hier ein und aus ging", sagt der 24-Jährige.

Gerüchte über Absprache

Inzwischen machen Gerüchte über eine Absprache mit der Polizei die Runde: War die Tür dauerhaft verschlossen, damit die Gäste bei Razzien nicht durch den Notausgang fliehen konnten? Die Polizei weist das zurück. Es ergehe "niemals eine Weisung oder Aufforderung, Notausgänge zu verschließen oder auf andere Weise zu versperren". Auch der Besitzer der Bar bestreitet das auf Anfrage.

Was überrascht: Der verschlossene Notausgang war zunächst nicht Gegenstand der Ermittlungen. Erst als die Angehörigen Ende vergangenen Jahres frustriert Strafanzeige gegen unbekannt erstatteten, nahm die Staatsanwaltschaft Hanau Ermittlungen auf. Armin Kurtovic begreift das bis heute nicht. Er hat bei dem Anschlag seinen Sohn Hamza (22) verloren: "Wieso wird nicht von Amts wegen ermittelt? Alle sagen, die Polizei wusste, dass der Notausgang abgeschlossen ist. Ich will es nicht aussprechen, aber wenn man das alles zusammen nimmt, habe ich für mich keine andere Erklärung, als dass es vertuscht werden sollte."

Vertrauen erschüttert

Ein Polizeinotruf, der nicht erreichbar war und ein verschlossener Notausgang, bei dem nicht ermittelt wurde: Das Vertrauen in die Polizei ist bei vielen der Angehörigen erschüttert. 

Armin Kurtovic, der bei dem Attentat einen Sohn verlor, gehen die Bilder nicht aus dem Kopf: Er schlafe jede Nacht mit dem Bild seines toten Jungen ein und wache mit diesem Bild auch wieder auf, sagt er: "Wir möchten doch nur, dass diese Sache hier aufgeklärt wird, dass die Fehler, die hier passiert sind, nicht wieder passieren."

Legaler Waffenbesitz eines rechtsextremen Psychopathen

Und noch eine Frage lässt die Angehörigen der Opfer nicht los: Wieso durfte Tobias R. über Jahre Waffen besitzen? 2002 war er in die Psychiatrie eingewiesen worden, hatte zwei Jahre später Strafanzeige gestellt, weil er sich von ausländischen Geheimdiensten verfolgt sah, 2007 griff er mutmaßlich einen Wachmann an, 2018 wurde gegen ihn wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz ermittelt.

Seit 2013 besaß Tobias R. eine Waffenbesitzkarte, die später verlängert wurde. Das fiel auch nicht auf, als er 2019 wieder Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Hanau erstattete - erneut, weil er sich überwacht wähnte. Die Anzeige bestand aus einer Aneinanderreihung von rassistischer Ideologie und wirren Verschwörungsmythen. Doch die zuständige Waffenbehörde wusste nichts von dieser Anzeige - und die Staatsanwaltschaft wusste nicht, dass Tobias R. Waffen besitzt. Sebastian Fiedler fordert daher, die Meldewege zwischen den Behörden zu verbessern, auch um extremistischen oder psychisch labilen Personen die Waffenbesitzkarte entziehen zu können. 

Ein psychiatrisches oder psychologisches Gutachten verlangt das Gesetz allerdings nur von Bewerbern bis 25 Jahre. Eine gefährliche Gesetzeslücke, sagt der Kriminologe Thomas Feltes von der Ruhr-Uni Bochum: "Ich halte diese Altersgrenze für absolut willkürlich. Von daher sollte diese Altersgrenze meiner Meinung nach aufgehoben werden." Wer eine Waffe haben wolle, der müsse sich einen psychologischen Test gefallen lassen - und der solle jährlich erneuert werden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete WDR 5 am 28. Januar 2021 um 08:41 Uhr.