Arm trotz Arbeit Wenn ein Einkommen nicht zum Leben reicht
Armut bleibt ein Tabuthema in Deutschland. Menschen, die davon betroffen sind, reden nicht gern darüber. Viele versuchen sich selbst zu helfen - indem sie zwei oder gar noch mehr Jobs haben.
Sandra G. ist 42 Jahre alt. Damit die alleinerziehende Mutter eines schulpflichtigen Kindes finanziell über die Runden kommt, hat sie zwei Jobs, arbeitet als Reinigungskraft und als Kellnerin. Trotz Arbeit aber ist sie arm. Kein Einzelfall: Immer mehr Erwerbstätige müssen mehr als eine Tätigkeit ausüben, weil sie sonst in eine finanzielle Schieflage geräten. 2023 gingen laut Statistischem Bundesamt 1,9 Millionen Menschen gleich zwei Jobs nach. Damit hat sich der Wert seit Anfang der 1990er-Jahre mehr als verdoppelt.
Bärbel H. ist 70 Jahre alt und seit drei Jahren Rentnerin. Eigentlich. Statt ihren Lebensabend genießen zu können, muss sie weiter arbeiten. Täte sie es nicht, könnte sie ihren Lebensstandard nicht halten, sagt sie. Und auch sie ist damit nicht allein: Eine steigende Zahl an Rentnern und Rentnerinnen geht im Ruhestand einer Beschäftigung nach. Laut Bundesarbeitsministerium sind aktuell 1.123.000 Erwerbstätige älter als 67 Jahre. Das waren Ende 2022 noch 56.000 weniger. Und im Vergleich zum Jahr 2000 mit damals 481.000 Beschäftigen hat sich die Zahl der älteren Minijobber insgesamt sogar mehr als verdoppelt. Die Zahl der ab 75-Jährigen, die ein geringfügig entlohntes Beschäftigungsverhältnis aufweisen, hat sich sogar verdreifacht.
14 Millionen Menschen in Armut
Ein Einkommen scheint für viele nicht mehr auszureichen. Es ist die finanzielle Not, die Erwerbstätige dazu zwingt, mehr als einen Job auszuüben und Rentner dazu drängt weiterzuarbeiten. Fast 17 Prozent der Bevölkerung in Deutschland lebte 2022 in Armut. Das sind mehr als 14 Millionen Menschen, so die Ergebnisse des Paritätischen Armutsberichts 2024. Damit stagnieren die Zahlen zwar erstmals seit Jahren auf einem sehr hohen Niveau, aber die Kinderarmut steigt weiter. Ein Fünftel der Armen sind Kinder und Jugendliche.
Alarmierend an den Ergebnissen ist zudem, dass fast zwei Drittel aller erwachsenen Armen einer Arbeit nachgehen oder in Rente sind. Nur sechs Prozent der erwachsenen Armutsbevölkerung ist arbeitslos, dagegen sind 34 Prozent erwerbstätig, darunter 30 Prozent Rentnerinnen und Rentner. Und die Armut erreicht immer mehr Gesellschaftsschichten. 60 Prozent verfügen über mittlere oder höhere Bildungsabschlüsse.
Mittelschicht immer häufiger betroffen
Nadine Hundert ist Fachberaterin für Krisenintervention der hessischen Stadt Braunfels. Sie beobachtet einen überproportional angestiegenen Zulauf von armutsgefährdeten Menschen in ihrer Beratungsstelle: "Tatsächlich führe ich mehr Gespräche zum Thema Armut als noch vor wenigen Jahren. Ich vermittle viele junge Familien, gerade auch Alleinerziehende und Rentner in die Schuldnerberatung." Sie spürt hier eine deutliche Veränderung, weil die Lebenshaltungskosten massiv gestiegen seien. Dadurch gerieten selbst Menschen in Krisen, die vor einigen Jahren noch nicht zu den Risikogruppen gehörten. "Es trifft immer mehr Schichten, auch die Mittelschicht."
Laut EU-Konvention gilt ein Haushalt als arm, wenn er mit seinem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Die Armutsschwelle bei Alleinstehenden in Deutschland lag 2022 bei einem monatlichen Einkommen von 1.186 Euro, bei einem Paar ohne Kinder bei 1.779 Euro. Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren gelten als armutsgefährdet, wenn sie weniger als 1.542 Euro monatlich zur Verfügung haben. Bei einem Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren sind es 2.490 Euro.
Fehlende Kinderbetreuung als Armutsrisiko
Die alleinerziehende Mutter Sandra G., die als Reinigungskraft und Kellnerin arbeitet, ist eigentlich gelernte Krankenpflegerin: "Ich leide darunter, dass ich meinen damaligen Beruf nicht mehr ausüben kann. Ich war schon mit Herz und Blut dabei, denn ich liebe es, Leuten zu helfen und sie auch zu betreuen." Aber das mit den Schichtdiensten habe nicht funktioniert. "Es gab Früh-, Spät- und Wochenenddienste, und wenn ich morgens früh um sechs anfangen muss, funktioniert das mit der Betreuung meines Kindes nicht." Es fehlen die Betreuungsplätze. Ihr Sohn stand jahrelang auf der Warteliste, doch es wurde kein Hortplatz frei.
Also musste sie ihren Job als Krankenpflegerin aufgeben und zeitlich passendere Jobs finden: "Mit zwei Jobs ist es zwar auch nicht leicht, weil ich tausendfach organisieren muss. Ein Job wäre da einfacher für mich, aber ich müsste mit nur einem Job wirklich jeden Cent komplett umdrehen, könnte meinem Kind gar nichts mehr bieten, kein Eis, nicht mal Tagesausflüge oder mal in den Urlaub zu fahren."
Fehlende Kinderbetreuung bedeutet gesellschaftliche Benachteiligung und erhöht das Armutsrisiko direkt. Denn Vollzeit- oder vollzeitnahe Angebote auf dem Arbeitsmarkt sind oft schlecht mit der Familie zu vereinbaren. Daher sind gerade Mütter, insbesondere Alleinerziehende, nur in geringem Umfang erwerbstätig. Im Falle einer Entlassung haben sie wenig oder keine Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung. Rentenansprüche werden kaum aufgebaut, und Altersarmut ist die Folge.
Staatliche Hilfe oft nicht gewollt
Der Alleinerziehenden Sandra G. stünden staatliche Leistungen zu, aber sie beantragt keine. Und nicht nur sie verzichtet auf finanzielle Leistungen. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nehmen rund 40 Prozent der Leistungsberechtigten diese nicht in Anspruch; manche aus Unwissenheit, andere, weil sie wie Sandra G. lieber in verdeckter Armut leben.
Die Sozialpädagogin Hundert kennt die Gründe mancher Menschen, die in verdeckter Armut leben, statt sich ans Jobcenter zu wenden. Denn in ihre Beratungsstelle kommen viele dieser Menschen erst spät, weil sie aus ihrer Not am liebsten alleine herauskommen wollten. "Sie haben Probleme damit, sich die Armut einzugestehen. Es ist mit Scham, mit einem Stigma verbunden, wenn man seine Lebenshaltungskosten nicht bestreiten kann und zum Leistungsempfänger wird. Für viele fühlt sich das wie ein Versagen an."
Und es sind auch immer mehr Rentner, die zu ihr kommen, weil sie nicht mehr weiterwissen. Viele sind auf der Suche nach einem Job, um ihre finanzielle Not auszugleichen. "Leute mit kleiner Rente werden geradezu dazu gezwungen aufzustocken oder aufzubessern, weil sich die Lebenshaltungskosten so massiv gesteigert haben. Viele trauen sich nicht mal mehr zu heizen, aus Angst vor den gestiegenen Energiekosten und dass sie die nicht mehr stemmen können."
Viele Rentner unterhalb der Armutsgrenze
Auch die Rentnerin Bärbel H. hat fast 45 Jahre als Industriekauffrau gearbeitet, davon 33 Jahre in einer mittelhessischen Firma für Förderrollen. Ihren Ruhestand hatte sich die 70-Jährige mal anders vorgestellt. Statt die Ruhe zu genießen, geht sie weiter arbeiten: "Ich muss mir was dazuverdienen. Die Rente allein würde nicht ausreichen. Und wenn ich nicht arbeiten würde, müsste ich mir überlegen, ob ich noch essen gehe, inwieweit ich jetzt überhaupt noch am sozialen Leben teilhaben kann, weil das ja alles so viel Geld kostet."
Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes müssen 42,3 Prozent der Rentner in Deutschland mit weniger als 1.250 Euro netto auskommen. Das sind mehr als vier von zehn Rentnern. Etwa jeder vierte Rentenempfänger (26,4 Prozent) kommt dabei sogar auf weniger als 1.000 Euro. Das betrifft besonders häufig Frauen, nämlich 53,5 Prozent, bei den Männern sind es "nur" 28,2 Prozent.
Und obendrauf noch die Steuerlast
Seitdem Bärbel H. Rentnerin ist, arbeitet sie als Sachbearbeiterin, elf Stunden die Woche. Mit diesem Arbeitsumfang liegt sie über einem Minijob, denn sie braucht die 200 Euro mehr im Portemonnaie. Damit aber werden ihre Rente und ihr Job zu einem Einkommen addiert. "Und da muss ich sagen, ich würde mit dem Geld besser hinkommen, wenn nicht am Jahresende die Steuer zuschlagen würde, die mir noch mal die Hälfte von dem, was ich dazuverdiene, abnimmt. Das fühlt sich an, als würde man für jede Mehrarbeit noch zusätzlich bestraft."
Die 70-Jährige sieht sich und alle anderen, die mit steigenden Kosten und wenig Geld zu kämpfen haben, als Verlierer der Inflation. "Es ist einfach nicht fair, wenn ich am Lebensende stehe, ich mir aber vieles gar nicht mehr leisten kann, weil es finanziell einfach nicht geht. Dabei habe ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe. Und das ist eine große Schieflage in unserem Land."