Krise bei der Bahn "Über Jahre zu wenig investiert"
Für die Krise bei der Bahn ist vor allem die Politik verantwortlich, meint der Schweizer Bahn-Experte von Andrian im tagesschau.de-Interview. Jahrelang habe es an Geld gefehlt - und an politischem Willen.
tagesschau.de: Massive Verspätungen, immer wieder technische Mängel, Züge fallen aus: Was läuft da schief bei der Deutschen Bahn?
Walter von Andrian: Grob zusammengefasst kann man sagen: Die Deutsche Bahn bringt größere Transportleistungen als in der Vergangenheit und sie befördert mehr Leute. Aus Spargründen hat sie aber weniger Fahrzeuge zur Verfügung und weniger Personal. Man hat die Anlagen zum Teil nicht ausgebaut oder sogar reduziert. Das ganze System ist sehr knapp kalkuliert. Und wenn irgendwo Störungen auftreten, hat die Bahn keine Reserven mehr, um diese Störungen auszugleichen.
Walter von Andrian ist Chefredakteur der Schweizer Eisenbahn-Revue. Die Fachzeitschrift beschäftigt sich nicht nur mit der Schweizer Bahn, sondern auch denen der Nachbarländer.
"Das große Ganze gerät aus dem Blick"
tagesschau.de: Man hat die Bahn also kaputt gespart?
Von Andrian: In Deutschland wurde über viele Jahre hinweg und wird auch heute noch viel zu wenig in die Bahn investiert. Die Schweiz und Österreich sind Spitzenreiter bei den Investitionen und Deutschland war jahrelang Schlusslicht. Und so ist die Deutsche Bahn in einen technischen Rückstand geraten.
tagesschau.de: Ist die Bahnreform, mit der die Bahn vor rund 25 Jahren privatisiert wurde, gescheitert?
Von Andrian: Vielleicht nicht gescheitert, aber es sind viele Probleme entstanden. Mit der Bahnreform hat man die Bahn aufgeteilt in Betriebsunternehmen einerseits, die Personen oder Güter befördern und das Netz andererseits. Und das Netz hat man nochmal aufgeteilt in Bahnhöfe und Stationen einerseits und die Strecken. Die Bahn hat inzwischen mehr als 200 Tochtergesellschaften und jede dieser Teil-Firmen optimiert ihre Tätigkeit für sich selbst. Jeder versucht, für sich möglichst erfolgreich zu sein. Diese Aufsplitterung hat Vorteile, aber sie hat auch den enormen Nachteil, dass das große Ganze, das gemeinsame Ziel aus dem Blick gerät.
Auch der Kontakt zwischen dem Management und der Basis ist durch die Größe des Konzerns und diese Zersplitterung erschwert. Da kommen oben die Probleme manchmal gar nicht oder zu spät an.
Japan: Personen- und Güterverkehr getrennt
tagesschau.de: In Japan, China und Taiwan kommen 99 Prozent aller Züge pünktlich an. Das bedeutet dort: Sie haben weniger als eine Minute Verspätung. Was machen diese Länder besser?
Von Andrian: Solche Vergleiche sind immer etwas schwierig. In Japan zum Beispiel fahren auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken keine Güterzüge. Die sind nur für den Personenverkehr. Außerdem sind die Sicherheitsbestimmungen in Japan ganz andere: Ein japanischer Zug dürfte in Europa niemals fahren, weil er nicht stabil genug ist. Bei einem Unfall würde er so demoliert werden wie ein Omnibus, das heißt, die technischen Anforderungen sind bei den Fahrzeugen geringer. Andererseits ist die Sicherheit der Anlagen in Japan sehr gut. Es hat dort bei Hochgeschwindigkeitszügen noch nie einen schweren Unfall gegeben. Das ist leichter, wenn man einen ganz homogenen Personenverkehr hat und nicht auch noch Güterverkehr oder Nebenstrecken berücksichtigen muss.
Schweiz: "Höheren Verschleiß nicht mit einberechnet"
tagesschau.de: Die Schweizer Bahn, einst Vorzeigeschüler, hat jüngst auch vermehrt Probleme mit der Pünktlichkeit gehabt: Was war der Grund?
Von Andrian: In der Schweiz hat man mit dem Projekt Bahn 2000 den öffentlichen Verkehr auf der Schiene sehr stark ausgebaut. Das ist eigentlich alles gelungen. Man hat Neubaustrecken erstellt, Stationen ausgebaut, neues Material beschafft. Aber man hat völlig übersehen, dass mit der stärkeren Benutzung der Strecken auch der Verschleiß zunimmt. Für dieses Mehr an Unterhalt, das dadurch nötig wird für Fahrzeuge und Strecken, fehlte plötzlich das Geld.
Inzwischen hat man dieses Geld beschafft, jetzt ist aber eine Vielzahl von Reparaturen nötig und man muss ungeheuer viel bauen. Dafür müssen sogar teilweise Streckenabschnitte wochenlang eingestellt werden, und das ist gar nicht beliebt bei den Fahrgästen.
"Politik hat Bahn vernachlässigt"
tagesschau.de: Dennoch funktioniert es in der Schweiz nach wie vor wesentlich besser als in Deutschland. Was könnte die Deutsche Bahn von der Schweiz lernen?
Von Andrian: In der Schweiz redet der Bund sehr stark beim Angebot der Bahn hinein. Da wird beispielsweise genau festgelegt, wie viele Schnellzüge pro Tag auf welchen Strecken fahren und wo sie halten. In Deutschland redet der Bund beim Fernverkehr fast gar nicht hinein. Und das, obwohl die Bahn ja ebenfalls zu 100 Prozent dem Bund gehört.
tagesschau.de: Hat also die Politik es versäumt, rechtzeitig einzugreifen?
Von Andrian: Die Bahn wurde von den politisch Verantwortlichen über viele Jahre hinweg vernachlässigt. Insbesondere bei den vorherigen Verkehrsministern Alexander Dobrindt und Peter Ramsauer hatte man den Eindruck, sie interessieren sich nicht besonders für die Bahn. Der Fokus lag eher auf Autoindustrie und Autobahnbau. In der Schweiz gibt es keine Autoindustrie, da ist die Bahn das ureigene Verkehrsmittel und wird deshalb von der Politik auch wichtiger genommen.
"Wirtschaftlichkeit darf nicht im Vordergrund stehen"
tagesschau.de: Wo müsste man ansetzen, um das Problem in den Griff zu bekommen?
Von Andrian: Früher war die Deutsche Bundesbahn ein direkt geführter Staatsbetrieb. Ich will nicht sagen, dass damals alles besser war und man muss auch nicht dahin zurückkehren. Aber ein zentrales Problem ist, dass heute die Wirtschaftlichkeit im Vordergrund steht. Wenn es eine Vorgabe der Politik gibt, dass im Fernverkehr dem Bund eine bestimmte Summe Geld abgeliefert werden muss, dann können gewisse Dinge nicht so funktionieren, wie es der Kunde sich wünscht. Denn dann muss man beim Personal sparen, bei den Fahrzeugen, bei der Technik. Und das läuft bei der Deutschen Bahn jetzt seit 20 Jahren so.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.