Interview

Interview mit Bosch-Managerin "Wir turnen nicht kollektiv"

Stand: 04.11.2014 02:42 Uhr

Die Rente mit 63 verschärfe Facharbeitermangel, klagen einige Firmen. Andere versuchen, die Arbeit für Ältere angenehmer zu gestalten. Ein Vorreiter ist Bosch. tagesschau.de sprach mit Bosch-Managerin Stock darüber, warum hier sogar 77-Jährige zurückkehren.

tagesschau.de: Viele Unternehmer klagen, dass der Facharbeitermangel durch die Rente mit 63 verschärft wird. Wie viele Mitarbeiter von Bosch sind davon eigentlich betroffen?

Heidi Stock: Wir gehen davon aus, dass in den nächsten zehn Jahren rund ein bis zwei Prozent der Belegschaft nach diesen Regelungen in Rente gehen könnte. Das ist bei mehr als 100.000 Mitarbeitern in Deutschland relativ wenig. Die Zahl 63 ist für uns dabei aber gar nicht so wichtig - wir versuchen grundsätzlich, unsere Mitarbeiter möglichst lange im Unternehmen zu halten. Ältere Mitarbeiter sind für uns wichtige Leistungsträger.

Zur Person
Heidi Stock leitet bei Bosch die Abteilung Mitarbeiterentwicklung, Vielfalt und Chancengleichheit. Allein in Deutschland hat das Unternehmen rund 107.000 Mitarbeiter.

tagesschau.de: Der Marzipanhersteller Niederegger schaltet laut Medienberichten mitten im Schichtbetrieb täglich eine Viertelstunde die Fließbänder ab. Dann wird in der Werkshalle kollektiv geturnt um die Leute länger fit- und von der Frührente abzuhalten. Gibt es das bei Bosch auch?

Stock: Wir turnen zwar nicht kollektiv, aber wir turnen. Es ist Teil unseres betrieblichen Gesundheitsmanagements. An vielen Standorten haben wir etwa Gymnastikräume. Und beispielsweise die Mitarbeiter, die am Standort Reutlingen Mikrochips auf Fehler untersuchen, die machen ein bis zwei Mal pro Schicht gemeinsam Bewegungsübungen. Aber auch lebenslanges Lernen spielt bei uns eine große Rolle. Wir wollen, dass unsere Mitarbeiter geistig flexibel bleiben. Denn man macht ja eine Aufgabe nicht ein Leben lang.

100 verschiedene Arbeitszeitmodelle

tagesschau.de: Menschen, die lange Zeit auf einem bestimmten Arbeitsplatz gearbeitet haben, bekommen also einen neuen Arbeitsplatz nach Wunsch?

Stock: Genau. Es gibt zwar auch Mitarbeiter die zehn Jahre und länger im gleichen Arbeitsumfeld sind, aber das ist eher die Ausnahme.

tagesschau.de: Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen? Wenn jemand am Fließband arbeitet, was kann der stattdessen machen?

Stock: Die Arbeit am Fließband ist bei uns nicht so, wie man sich das klassischerweise vorstellt. Da gibt es ganz unterschiedliche Tätigkeiten. Beispielsweise können unsere Mitarbeiter von der reinen Produktionsebene, die sehr taktgebunden ist, auch mal in die Qualitätskontrolle wechseln. Um die Leistungsfähigkeit bei Schichtarbeit zu erhalten, versuchen wir flexibles Arbeiten dort ebenso zu ermöglichen. Deshalb bieten wir insgesamt 100 verschiedene Arbeitszeitmodelle an.

Wir haben uns auch gezielt gefragt, was unsere älteren Mitarbeiter eigentlich wollen. Wollen die eher weniger arbeiten? Oder vielleicht ein Hierarchielevel zurückgehen? Dazu haben wir interne Umfragen gemacht. Und das Ergebnis war, dass viele Kollegen mit Mitte 50 das Gegenteil wollen. Die sagen: Die Kinder sind jetzt aus dem Haus und ich kann noch mal richtig durchstarten. Und ich würde auch gerne noch einmal ins Ausland gehen.

"Die Fließbandarbeit macht die Menschen nicht mehr kaputt"

tagesschau.de: Das wird vermutlich mehr auf Menschen zutreffen, die in der Verwaltung arbeiten, als auf die, die am Fließband stehen, oder?

Stock: Das ist gemischt. Denn auch als Facharbeiter oder Techniker sind sie im Ausland mal gefragt, etwa wenn eine neue Fertigungslinie anläuft. Sie müssten sich die Arbeitsplätze bei uns in der Produktion mal angucken, die sind ja nicht so, wie man sie klischeehaft vielleicht noch im Kopf hat. Auch die Fertigung ist anspruchsvoll und komplex, gerade in einer vernetzten Produktion. Da geht es künftig weniger nur um die körperliche Leistungsfähigkeit.

tagesschau.de: Nennen Sie mal ein Beispiel: Was ist heute anders an einem Arbeitsplatz bei Ihnen als noch vor 30 Jahren? Wie werden die Leute körperlich gesund gehalten?

Stock: Es gibt beispielsweise Hebevorrichtungen, schwere Sachen werden heute einfach ganz anders zusammenmontiert. Jeder Arbeitsplatz wird bei uns auf gesundheitliche Aspekte hin analysiert und zertifiziert. Bewegungsabläufe werden nach ergonomischen Gesichtspunkten optimiert. Und die Produktion funktioniert viel stärker in Gruppenarbeit. Ich habe nicht mehr eine monotone Tätigkeit, die ich ständig mache, sondern ich wechsele die Position. Und das hält geistig fit.

Wir haben inzwischen auch viele Mitarbeiter, die nach ihrem eigentlichen Rentenbeginn weiter bei uns tätig sind. Die können sich freiwillig melden.

1600 Pensionäre sind freiwillig zurückgekehrt

tagesschau.de: Wie funktioniert das genau?

Stock: Die Pensionäre können sich registrieren lassen und dann als interne Berater eingesetzt werden. Wir haben weltweit mehr als 1600 so genannter Seniorexperten im Pool. Gerade bei Projektaufgaben in neuen Ländern, etwa dem Aufbau einer neuen Produktionslinie, schätzen wir ihre Erfahrung sehr. Die Pensionäre werden auch gezielt mit jüngeren Führungskräften zusammengebracht.

tagesschau.de: Und das ist ein Angebot für alle Mitarbeiter oder nur für Führungskräfte?

Stock: Das ist für alle Mitarbeiter. Gerade letzte Woche war ein 77-jähriger Ingenieur im Einsatz, der keine Führungskraft war. Insgesamt sind nur ein Drittel unserer Seniorexperten ehemalige Manager.

tagesschau.de: Und wie viel arbeiten die dann noch im Schnitt?

Stock: Das ist im Grunde wie bei einer Unternehmensberatung: Sie arbeiten teilweise projektbezogen, teilweise länger, aber immer zeitlich befristet. Mal zwei Wochen am Stück, mal ein halbes Jahr ein oder zwei Tage pro Woche.

"Die Seniorexperten verfolgen keine Karriereziele"

tagesschau.de: Ich bin in Rente, gehe ein Jahr lang täglich angeln - und dann kommt der Anruf aus der Firma und ich sitze wieder am Schreibtisch und soll eine Projektleitung machen. Und plötzlich merke ich: Ich weiß ganz viel gar nicht mehr. Ist das nicht ein Problem?

Stock: Das ist eigentlich nicht der Fall. Diese Leute werden ja extra für ihr Erfahrungswissen geholt. Die bringen genau die Kompetenz mit, die in der jeweiligen Abteilung gerade fehlt.

tagesschau.de: Und von der anderen Seite? Wenn beispielsweise ein Ex-Chef mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein in das Team einer womöglich 30 Jahre jüngeren Führungskraft zurückkehrt, die ihm dann vorgesetzt ist - ist das nicht schwierig?

Stock: Da gibt es keine Konflikte, im Gegenteil. Die Seniorexperten verfolgen keine Karriereziele. Sie gehen viel gelassener an die Aufgabe. Die Jüngeren sehen sie nicht als Konkurrenz, sondern als Kollegen. Ich habe das selbst erlebt: Ich habe die Abteilung hier übernommen und mein Vorgänger blieb auf meinen Wunsch ein halbes Jahr länger. Er war froh, die Führung abgegeben zu haben und ich war froh, dass ich einen Berater an der Seite hatte. Das ist eine Frage der Wertschätzung und der Unternehmenskultur, wie man mit dem Generationenunterschied bewusst umgeht. Wir sind aufeinander zugegangen.

Was können Mittelständler tun?

tagesschau.de: Das ist das Ideal. Und es kommt nicht vor, dass es mal nicht ideal läuft?

Stock: Der Ansatz ist so: Ich habe als Abteilungsleiter ein Problem zu lösen. Ich könnte einen externen Berater anfragen. Oder ich hole mir einen pensionierten Bosch-Mitarbeiter, damit der mir hilft. Der eine freut sich, dass er gerufen wird, und der andere freut sich, dass da jemand kommt und ihn unterstützt.

Wir thematisieren grundsätzlich generationenübergreifendes Arbeiten. Beispielsweise haben wir intern eine Art Social-Business-Netzwerk, Bosch Connect. Da haben wir junge Mitarbeiter gestandenen Führungskräften als Mentoren an die Seite gestellt und die haben dann gezeigt: Guck mal, so funktioniert das Netzwerk. Und das war für beide Seiten eine spannende Erfahrung. Da sind Vorurteile abgebaut worden.

tagesschau.de: Wenn ich all ihre Projekte zusammennehme, dann wirkt das insgesamt aufwändig und auch teuer. Für einen Konzern wie Bosch ist das machbar - aber sind ähnliche Projekte für die zahlreichen Mittelständler in Deutschland ebenfalls realistisch?

Stock: Ganz viel von dem, was wir machen, können Mittelständler und viele andere Unternehmen sicherlich auch. Man kann beispielsweise darauf achten, wie sich Teams zusammensetzen. Sind das alles nur gesetztere Herren mit viel Erfahrung und mittendrin sitzt ein junger Mitarbeiter, der sich nicht wohlfühlt? Oder sind das zu viele junge Kollegen, die ganz ungeduldig sind? Das allerwichtigste ist dabei die Wertschätzung. Und das hat nichts mit der Größe des Unternehmens zu tun.

Das Interview führte Sarah Welk, tagesschau.de