Nutzung von Abwärme Große Energiepotenziale in Deutschland
Ob Rechenzentrum oder Industriebetrieb: Viele Unternehmen lassen ihre Abwärme ungenutzt verpuffen. Dabei könnten damit Hunderttausende Haushalte beheizt werden. Die Bundesregierung plant deshalb eine partielle Lieferpflicht.
Für Ingmar Kohl ist es ein bundesweit einmaliges Projekt. Der Abteilungsleiter des Versorgers Mainova steht auf einer Baustelle in Frankfurt am Main und erklärt das Prinzip: "Die Abwärme aus dem Rechenzentrum kommt mit ungefähr 30 Grad bei uns an, und wir heizen sie mit Hilfe von zwei großen Wärmepumpen auf zirka 70 Grad dann noch einmal nach." Das Rechenzentrum der Firma Telehouse liegt auf der anderen Straßenseite, in direkter Nachbarschaft zur Baustelle, wo derzeit 1300 neue Wohnungen entstehen. Das Bauende ist für 2025 geplant.
Das Rechenzentrum soll später jährlich 2400 Megawattstunden Wärme per Rohrleitung in die Häuser liefern, das wären 60 Prozent des benötigten Bedarfs im Neubaugebiet. Der Rest wird über die normale Fernwärmeleitung in der Stadt abgedeckt. Der Liefervertrag über 15 Jahre ist zwischen Mainova und Telehouse bereits unterzeichnet. Die genutzte Abwärme - Telehouse stellt sie übrigens kostenlos zur Verfügung - soll zusätzlich dem Klimaschutz dienen. Im Vergleich zu einer gasbetriebenen Beheizung würden jährlich 400 Tonnen CO2 eingespart.
Druck auf Abwärme-Erzeuger steigt
In Frankfurt am Main gibt es insgesamt rund 60 Rechenzentren, buchstäblich ein Hotspot in Deutschland. Warum Stadt und Versorger nicht schon viel früher mit der Abwärmenutzung angefangen haben, erklärt Kohl auch mit der politischen Großwetterlage. "Ich glaube, was gefehlt hat, war der Druck, mit Volldampf in Richtung klimaneutrale Wärmeversorgung zu gehen." Zudem seien die Rechenzentren inzwischen viel größer als früher, jetzt ergebe die Abwärmenutzung erst richtig Sinn.
Der IT-Branchenverband Bitkom verkündete bereits im Sommer per Pressemitteilung, dass mit der Abwärme aus Deutschlands Rechenzentren rund 350.000 Wohnungen versorgt werden könnten. Das entspreche fast dem Bestand des Stadtstaats Bremen. Kein Wunder, dass das Bundeswirtschaftsministerium die Betreiber deshalb verpflichten will, die Abwärme künftig stärker zu nutzen. Laut eines Referentenentwurfs aus Robert Habecks Ministerium sollen alle Rechenzentren, die ab Januar 2025 gebaut werden, mindestens 30 Prozent ihrer Energie wiederverwenden. Server-Farmen, die ab 2027 entstehen, müssen 40 Prozent der Abwärme nutzen - entweder für sich selbst oder für andere.
Branche gegen gesetzliche Nutzungspflicht
So viel die IT-Branche mit der klimafreundlichen Abwärme wirbt, so wenig kann sie dem gesetzlichen Zwang etwas abgewinnen. Die starren Prozentwerte im Entwurf bergen die Gefahr eines "Rechenzentren-Verhinderungsgesetzes", meint Anna Kraft von der German Data Association (GDA). "Sollte das Gesetz in dieser Form verabschiedet werden, wird der Bau neuer Rechenzentren unmöglich." So riskiere die Bundesregierung die erfolgreiche Umsetzung ihrer Digitalstrategie.
Im Fokus sind nicht mehr nur die Rechenzentren allein. Auch in übrigen Wirtschaftsbranchen schlummert viel Energiepotenzial. Bislang sind aber nur wenige Städte und Gemeinden auf die Idee gekommen, dieses Potenzial für das Heizen von Wohnungen auch zu nutzen. In der Vergangenheit beließen sie es oft dabei, die Abwärme aus ihren Müllheizkraftwerken ins Fernwärmenetz einzuspeisen. Kooperationen mit Privatunternehmen sind noch die große Ausnahme. So nutzt zum Beispiel die Stadt Karlsruhe seit 2010 die Abwärme aus einer benachbarten Mineralölraffinerie, um damit rund 32.000 Wohnungen, öffentliche Einrichtungen und Unternehmen zu beheizen.
Fraunhofer-Institut analysiert industrielle Abwärme
Wie groß das Potential in der Industrie ist, hat ein von der EU gefördertes Projekt namens sEEnergies berechnet. Daran war in Deutschland unter anderem das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI beteiligt. Das Team um Wissenschaftlerin Pia Manz hat sich 1608 Industriestandorte in der EU genauer angeschaut, in Deutschland waren es 310. Ergebnis der Datenbankrecherchen: Allein in Deutschland werde industrielle Abwärme in einer Größenordnung zwischen 25 und 100 Petajoule jährlich verschwendet. "Damit könnte der Wärmebedarf von einer halben Million bis zu zwei Millionen Haushalte gedeckt werden", sagt Manz. "Wir waren überrascht, wie wenig davon genutzt wird."
In die Untersuchung flossen Daten aus der Chemie-, Eisen- und Stahlindustrie, der Zement-, Glas- und Papierherstellung sowie von Raffinerien ein - also lediglich besonders energieintensive Unternehmen, noch nicht einmal die gesamte Industrie. Die jeweilige Abwärmequelle durfte maximal zehn Kilometer von der nächsten Fernwärmeleitung entfernt sein. "Die allermeisten Standorte waren innerhalb eines Radius von zwei Kilometern. Insofern würde ich die vorsichtige Schlussfolgerung ziehen, dass die Entfernung nicht das große Hemmnis ist", so Manz.
Hohe Kosten dämpfen Leitungsausbau
Für manche Projekte kann die Entfernung allerdings der entscheidende Faktor bei der Frage sein, ob es sich wirtschaftlich lohnt, eine Rohrleitung zur Abwärmequelle zu legen. Beispiel Frankfurt am Main: Das Rechenzentrum direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite war für den Versorger Mainova ein Glücksfall. Mainova-Projektleiter Kohl erzählt, dass rund 500 Meter Wärmeleitung vom Neubaugebiet zum Rechenzentrum gelegt werden. "Auch bis zu einem Kilometer kann es je nach Konstellation interessant sein. Darüber hinaus wird es sehr schwierig." Besonders in der Mainmetropole sei es wegen des hochverdichteten Bodens oft sehr teuer, unterirdisch Kabel zu verlegen. Für einen einzigen Meter Fernwärmeleitung kalkuliert sein Unternehmen einen mittleren vierstelligen Eurobetrag.