Kurz vor Ablauf der Friedenspflicht Tarifeinigung für Chemieindustrie - ganz ohne Streiks
Ganz ohne Arbeitskampf haben sich Arbeitgeber und Gewerkschaft auf einen Tarifvertrag für die Chemieindustrie geeinigt. Es gibt nicht nur mehr Geld für alle - erstmals werden Gewerkschaftsmitglieder besonders bedacht.
Kurz vor Ablauf der Friedenspflicht im Tarifstreit der Chemiebranche haben sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter auf einen Abschluss geeinigt. Die insgesamt 585.000 Beschäftigten der chemisch-pharmazeutischen Industrie sollen insgesamt 6,85 Prozent mehr Geld bekommen, wie beide Seiten mitteilten. Der Tarifvertrag tritt am 1. Juli in Kraft und hat eine Laufzeit von 20 Monaten.
Extra freier Tag nur für Gewerkschaftsmitglieder
Bei den Verhandlungen wurde zudem ein zusätzlicher freier Tag nur für Gewerkschaftsmitglieder vereinbart. Erstmals wurden damit neben den allgemeinen Gehaltssteigerungen exklusive Vorteile für Gewerkschafter in einem großen Flächentarifvertrag festgeschrieben. Sie müssen dem Arbeitgeber ihre Mitgliedschaft aber anzeigen und erhalten bei Mitgliedsjubiläen noch zusätzlich einen zweiten Tag frei.
Ziel der Vereinbarung sei die Steigerung der Tarifbindung, teilten beide Seiten mit. Streng genommen gelten Tarifabschlüsse generell ausschließlich für Gewerkschaftsmitglieder. Die Arbeitgeber wenden sie aber meist für alle Beschäftigten an, was gelegentlich zu Ärger über "Trittbrettfahrer" geführt habe, die Vorteile genießen, ohne Mitgliedsbeiträge an die Gewerkschaften zu zahlen, so Beobachter.
"Neues Kapitel der Tarifpolitik"
Beim Mitgliederbonus habe man am Ende eine einfache Lösung ausgehandelt, deren Vorteil sich für die Menschen sofort erschließe und der die Betriebe nicht überfordere, sagte der Verhandlungsführer der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) Oliver Heinrich. "Damit schlagen wir ein neues Kapitel in der Tarifpolitik auf", so Heinrich.
In den laufenden Verhandlungen hatten die Arbeitgeber betont, die Belegschaften nicht spalten zu wollen. "Für uns ist wichtig, dass wir das Prinzip 'Gleicher Lohn für gleiche Arbeit' nicht antasten", sagte der Verhandlungsführer des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC) Matthias Bürk. Der Bonus sei ein Zeichen der Wertschätzung und solle das ehrenamtliche Engagement der Gewerkschafter in deren Freizeit belohnen.
Verhandlungen unter Zeitdruck
Die Verhandlungen, bei denen die Arbeitgeber erst in der dritten bundesweiten Runde ein Angebot vorgelegt haben, standen unter Zeitdruck. Die Friedenspflicht wäre zum 30. Juni ausgelaufen. Danach wären Warnstreiks möglich gewesen. So blieb es bei Protestaktionen außerhalb der Arbeitszeit an mehreren großen Chemiestandorten mit Tausenden Teilnehmern. Die Parteien schrieben auch ihre zum 30. Juni gekündigte Schlichtungsvereinbarung fort, die weiterhin ohne externe Schlichter auskommt.
Knapp sieben Prozent mehr Geld
Die gewerkschaftliche Forderung nach sieben Prozent mehr Geld wurde mit 6,85 Prozent in zwei Stufen annähernd erfüllt, dafür aber auf eine Laufzeit von 20 Monaten gestreckt. Die erste Stufe von zwei Prozent greift bereits zum 1. September, während der zweite Schritt zum 1. April 2025 in Kraft tritt. Dieser kann in einzelnen Betrieben aus wirtschaftlichen Gründen um bis zu drei Monate nach hinten verschoben werden.
Die Arbeitgeber hatten in der Verhandlung die doppelte Krisensituation der Branche beschrieben und einen dazu passenden Abschluss verlangt. Die lahmende Konjunktur mit schwacher Nachfrage und hohem Importdruck treffe auf strukturelle Nachteile wie teurere Energie, hohe Arbeitskosten und ausufernde Bürokratie.
Aussichten "stabil bis positiv"
Zumindest im wichtigen Teilbereich Pharma stehen die Zeichen aber wieder auf Wachstum. Vor allem Bestellungen aus Nordamerika und Europa haben den Umsatz in den ersten vier Monaten um knapp fünf Prozent wachsen lassen, wie der Verband der Chemischen Industrie (VCI) vor wenigen Tagen berichtete. Damit konnte auch das weiterhin schwache Geschäft im Inland ausgeglichen werden. Die weiteren Aussichten wurden als stabil bis positiv bewertet.