Globale Seefahrt Gefangen auf dem Geisterschiff
Geht ein Reeder pleite, lässt er unter Umständen das Schiff samt Besatzung einfach auf dem Meer. Verlassen treibt die Crew umher, oft monatelang. Letztes Jahr erreichte die Zahl aufgegebener Seefahrer einen Rekordwert von 1550 Menschen.
Die Seefahrt ist der am stärksten globalisierte Sektor. Ein arabischer Reeder kann ein Schiff besitzen, das unter der Flagge von Liberia auf einer Route von Asien nach Afrika fährt - und an Bord befinden sich philippinische, syrische und ukrainische Seeleute.
Geht etwas schief, ist es leicht, in diesem Geflecht unterzutauchen. Leidtragende sind die Seefahrer an Bord. Die International Transport Workers' Federation (ITF) und Missionare sind oft die Einzigen, die ihnen beistehen. Mit eigenen Booten fahren sie zu den verlassenen Schiffen und hieven mit kleinen Kränen zumindest das Nötigste wie Essen und Trinken an Bord.
Ein Leben im Gefängnis, Haftdauer ungewiss
Als der Erste Offizier Mohammed Aisha auf der "MV Aman" anheuert, weiß er nicht, dass dieses Schiff lange sein Gefängnis sein wird. Der Containerfrachter wird wegen Sicherheitsmängel von ägyptischen Behörden festgesetzt. Der Reeder taucht unter und gibt es auf. Die Crewmitglieder dürfen es verlassen, doch Offizier Aisha wird zum Verantwortlichen erklärt und muss an Bord bleiben.
Bald liegt der Frachter ohne Diesel, Wasser oder Strom 300 Meter vom ägyptischen Ufer entfernt. Immer wieder muss Aisha an Land schwimmen, um Nahrung und Trinkwasser zu besorgen. Nach über drei Jahren kann die ITF die Rückführung des Seefahrers nach Hause erreichen.
Für den ITF-Inspektor Mohamed Arrachedi ist das Alltag. Von Bilbao aus kämpft er um die Rechte der Seefahrer. Dass die Reeder häufig ungeschoren davonkommen, ist in seinen Augen eine Unverschämtheit. "Die Seeleute bewegen die Güter dieser Welt. Sie machen ihre Arbeit. Hier geht es um Menschenhandel, um Sklaverei. Die wahren Verantwortlichen werden nicht bestraft", sagt er.
Geisterschiffe wie dieses werden für die im Stich gelassene Crew zum Gefängnis. Menschenrechtler sprechen von moderner Sklaverei.
Zwölf Meilen vor der Küste herrscht der Wilde Westen
Der Ozean ist ein Arbeitsfeld für 1,5 Millionen Seefahrer. Sie liefern Kleidung, Möbel, Öl oder Zement. 90 Prozent unserer Waren werden auf Frachtschiffen transportiert. Im Welthandel geht es - wie fast überall - um Profit, und wenn sich ein Schiff nicht mehr rechnet, dann gibt es einen unrühmlichen Ausweg: still und leise das Schiff aufgeben. Für die Seeleute bedeutet das, den Job zu verlieren.
In Gebieten wie dem Mittleren Osten werden sie nicht an Land gelassen, bekommen kein Visum, haben kein Geld für den Rückflug. Die Crew muss auf dem Schiff ausharren, ohne Proviant, Heizöl, Wasser. Unbemerkt von der Außenwelt. Die Familien zu Hause leiden Hunger, weil keine Heuer mehr kommt.
"Maritime Gesetze existieren; sie zu brechen, ist auf See leicht", sagt Mark Pieth, Rechtswissenschaftler und Antikorruptionsexperte aus Basel. Letztes Jahr hat er ein Buch zu den Rechtsbrüchen auf den Weltmeeren geschrieben. "Es ist das Gegenteil von dem, was wir im Straßenverkehr haben. Da weiß man, wem das Auto gehört und kann die Spur verfolgen. In der Schifffahrt geht das nicht immer." In vielen Fällen ist der Reeder nicht mehr als eine Briefkastenfirma auf den Marshall Islands, und die Flagge, unter der das Schiff fährt, eine sogenannte "Flag of Convenience". Hinter der "Flagge der Bequemlichkeit" stecken auch Länder wie Palau, Moldawien, Liberia, die sich nicht um die Belange kümmern.
8000 Seefahrer wurden aufgegeben
Verlassene Frachtschiffe werden in unserer global vernetzten Wirtschaft zu einem immer größeren Problem. Das bestätigt die International Labour Organisation (ILO). Die UN-Sonderorganisation kümmert sich um Menschen- und Arbeitsrechte, auch auf hoher See. In einer Datenbank erfasst sie Fälle.
2017 wurden 55 Schiffe aufgeben, 2019 waren es schon 74, und letztes Jahr sogar 113. Laut ILO waren in den letzten zwanzig Jahren davon über 8000 Seefahrer betroffen.
Versicherung gegen das Im-Stich-Lassen
Ein Seearbeitsübereinkommen von 2006 legt fest, dass Eigner eine sogenannte "P & I"-Versicherung abschließen müssen. Wenn Eigner und Flaggenstaat - der im Zweifelsfall einspringen muss - nicht zahlen, soll sie einspringen und die Heuer der letzten vier Monate sowie die Rückführung zahlen.
In den meisten Fällen passiert das auch. Doch immer wieder, so die Erfahrung der Gewerkschafter, zahlen Reeder keine Prämien. "Es ist ein Verstoß gegen das Seearbeitsübereinkommen", sagt ITF-Inspektor Arrachedi, "aber es gibt zu wenig Kontrollen. Diese Mechanismen sollten geändert werden."
Gift im Meer
Verlassene Schiffe sind auch ein Problem für die Umwelt. Irgendwann rosten die Geisterschiffe durch und sinken. Öl, Treibstoff, aber auch Giftstoffe wie Asbest, Quecksilber und Farben gelangen in den Ozean.
"Keiner weiß, wie viele Schiffe auf dem Grund des Meeres liegen", sagt Till Seidensticker von Greenpeace. "Wir sind als Menschheit seit über hundert Jahren mit Stahlschiffen unterwegs. Jedes Schiff, das gebaut wird, muss auch entsorgt werden. Aber es ist teuer, solche Schiffe zu entsorgen - vor allen Dingen, wenn sie Giftstoffe enthalten." Und so bleiben sie trotz Gesetze verlassen auf dem Meer. Der Ozean ist eben groß.