Inflation in der Türkei Ein Wirt kämpft ums Überleben
Die Inflation in der Türkei steigt rasant, die Lira verliert an Wert. Der Unmut in der Bevölkerung wächst. Die schnell steigenden Preise sorgen für massive Probleme und Existenzängste - auch in der Gastronomie.
Das Jahr hat für die Menschen in der Türkei teuer angefangen. Strom, Sprit, Fahrkarten für Bus oder Bahn: Überall sind die Preise kräftig raufgegangen. Dabei ist die Inflation schon im vergangenen Jahr durch die Decke gegangen. Offiziell lag sie im Dezember im Vergleich zum Dezember 2020 bei 36 Prozent. Eine unabhängige Expertengruppe geht von mehr als 80 Prozent aus. Vor allem Lebensmittel werden immer teurer.
Inoffizielle Inflationsrate deutlich höher
Damit muss auch Cetin irgendwie klarkommen. Er hat ein Schnellrestaurant in Istanbul, traut sich aber kaum, die Preise zu erhöhen, obwohl er deutlich mehr für Zutaten ausgeben muss. Der Liter Milch kostet Mitte Dezember im Discounter rund fünf Lira, zwei Wochen später sind es schon rund sieben Lira. Auf das ganze vergangene Jahr gesehen wurde Milch um knapp 80 Prozent teurer, Mehl und Hühnchen sogar um knapp 90 Prozent. Das zeigen aktuelle Zahlen des türkischen Statistikamtes.
Eine so hohe Inflation hatte offenbar auch Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht erwartet. "Was auch immer der Grund dafür ist, wir bedauern, dass unsere Bürger damit konfrontiert sind", sagt das Staatsoberhaupt.
Die Teuerung lieber nicht an die Kunden weitergeben
Was Erdogan bedauert, bereitet Cetin schlaflose Nächte. Seit der Corona-Pandemie habe er die Preise in seinem Schnellrestaurant im Zentrum von Istanbul erst einmal angehoben, erzählt der 50-Jährige bei einem Tee an einem der kleinen Tische vor dem Lokal. Vor drei Monaten wurde beispielweise das Hühnergericht um ein Drittel teurer. Jetzt müsste er eigentlich nochmal aufschlagen. "Mein Sohn führt bei uns Buch und ermahnt mich ständig, ich soll die Preise erhöhen", sagt er. "Bis jetzt habe ich mich geweigert. Manchmal höre ich ihn schon im Traum sagen: 'Papa, geh' mit den Preisen rauf!'"
Doch wenn er das täte, bliebe wohl noch mehr Kundschaft weg, befürchtet Cetin. Immer wieder steht einer seiner Mitarbeiter unruhig in der Eingangstür und hält Ausschau nach Gästen. Die, die noch kommen, sind meistens Arbeiter aus der Nachbarschaft, wie Halil. Der 43-jährige Elektriker hat sich Gemüseauflauf geholt, ohne Fleisch - das sei noch günstig, erklärt er. Denn auch Halil muss sparen. "Vor zwei Wochen bin ich noch mit meiner Familie am Wochenende für rund zehn Euro frühstücken gewesen. Im selben Lokal kostet das jetzt rund das Doppelte. Darum habe ich mir ein billigeres Restaurant suchen müssen."
Das Restaurant wird zum Minusgeschäft
Die Krise ist bei der Mittelschicht angekommen, auch bei Cetin, dem Istanbuler Wirt. Fleisch kommt bei ihm daheim nur noch auf den Tisch, wenn es im Lokal übrigbleibt. "Das Essen, das wir tagsüber nicht verkaufen können, packen wir am Abend ein und nehmen es mit nach Hause. Früher haben wir das den Straßenkindern oder anderen Obdachlosen gegeben. Jetzt teilen wir es unter dem Personal auf." Cetin habe einen Teil seiner Belegschaft entlassen müssen; keiner von ihnen habe bislang einen neuen Job gefunden, sagt er betroffen.
Jetzt putzt er selbst die Klos und gibt Essen aus. Und nur weil die ganze Familie mithilft, geht es noch irgendwie. Aber unterm Strich sei es ein Minusgeschäft, gibt er zu. Allein Strom ist in der Türkei zum neuen Jahr um bis zu 125 Prozent teurer geworden. Dieser Preisaufschlag tue am meisten weh. "Allein diesen Monat werde ich ungefähr 800 Euro zahlen. Seit Beginn der Pandemie habe ich knapp 30.000 Euro Schulden gemacht." Sobald Cetin die abbezahlt habe, sagt er, möchte er den Laden dicht machen.
Kritik an Erdogan wird immer lauter
Im Internet hagelt es Kritik an der türkischen Regierung und an Präsident Erdogan. Es hat auch im vergangenen Jahr kleinere Demonstrationen wegen der Finanz- und Wirtschaftspolitik gegeben. Aber viele trauen sich nicht, sich öffentlich zu äußern.
Auch der Istanbuler Wirt Cetin hält sich bei der Frage nach Verantwortlichen für die Krise zurück. "Ich kann nicht nur der Regierung die Schuld geben", weicht er aus. "Wer auch immer an die Macht in der Türkei kommen sollte, wird das Problem nicht in den Griff kriegen, obwohl eigentlich klar ist, was man machen müsste: Es liegt an der Produktion." Grüne Linsen zum Beispiel seien teuer, weil hier nicht genug angebaut werde. "Genauso Fleisch. Es gibt einfach keins hier", klagt Cetin.
Opposition wittert ihr Chance
Die türkische Opposition glaubt, es besser machen zu können. Eigentlich wird erst 2023 gewählt. Sie will aber vorgezogene Wahlen, wittert ihre Chance, Erdogan endlich aus dem Amt zu drängen. Der steht immer mehr unter Druck. Die Umfragewerte für ihn und seine Partei werden immer schlechter.
Ungeachtet dessen versucht der Präsident, sich kämpferisch zu geben. "Wir sind entschlossen, der Inflation das Genick zu brechen und sie so schnell wie möglich in den einstelligen Bereich runterzubringen", verspricht Erdogan. Experten sagen das Gegenteil voraus: Die Inflation werde weiter steigen, schon bald auf 40 Prozent - und das sind nur die offiziellen Zahlen.