Neue Therapie bei Alkoholikern Kontrolliertes Trinken statt Abstinenz
Lange Zeit galt Abstinenz bei Alkoholsucht als einzige Therapie. Doch komplett trocken zu bleiben, fällt vielen schwer. Experten schlagen daher eine neue Behandlung vor: kontrolliertes Trinken.
Das Glas Wein, ein Feierabendbier, Sekt zum Anstoßen - Alkohol gehört zu unserer Kultur. Im internationalen Vergleich gilt Deutschland laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OSZE) als eines der Hochkonsumländer, wenn es um Alkohol geht.
Mehr als ein Glas Wein jeden Abend ist schon riskant
Jeder zehnte Erwachsene in Deutschland nimmt durchschnittlich zehn Liter reinen Alkohol im Jahr zu sich. Das sind 200 Liter Bier oder gut 80 Liter Wein. Die Grenze zwischen Genuss und Sucht ist dabei schmal. Laut Robert Koch-Institut trinken 14 Prozent aller Frauen und 18 Prozent aller Männer Alkohol in riskanten Mengen. Riskant bedeutet, so die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, bei gesunden Frauen täglich mehr als 12 Gramm und bei Männern täglich mehr als 24 Gramm reinen Alkohol. Zum Vergleich: Eine 0,33 l Bierflasche enthält 13 g Alkohol, ein 0,2 l Wein 18 g.
Die Dunkelziffer alkoholabhängiger Personen ist hoch, denn das Problem wird oftmals nicht erkannt, erklärt Maurice Cabanis, Direktor der Klinik für Suchtmedizin und abhängiges Verhalten am Klinikum Stuttgart. Viele alkoholkranke Menschen gestehen sich ihre Sucht jahrelang nicht ein, oftmals aus Scham.
Die Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten, denen alkoholabhängige Menschen angehören, sind dabei so vielfältig wie die Ursachen einer Suchterkrankung. Mögliche Gründe können biografisch oder genetisch sein, aber auch erlernte Mechanismen, wenn zum Beispiel aus einem Feierabendbier mehrere werden oder man immer früher am Tag anfängt, zu trinken. Doch Abstinenz als einziges Ziel ist für viele Alkoholsüchtige abschreckend. Das ist einer der Hauptgründe, warum nur etwa jeder zehnte von ihnen überhaupt Hilfe sucht und eine Therapie beginnt.
Mit kontrolliertem Trinken zum Therapieerfolg
Als neue erfolgsversprechende Methode in der Behandlung von Alkoholismus stufen Fachleute daher zunehmend das kontrollierte Trinken ein, bei dem Alkohol nicht komplett verboten wird. Joachim Körkel, Professor für Psychologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, hat das Programm entwickelt. Eine große europaweite Studie mit älteren Menschen, die sogenannte Elderly Study, hatte 2020 die Notwendigkeit zur Abstinenz widerlegt. Viele ältere Menschen, so die Erkenntnis, sind zwar nicht zur Abstinenz bereit, aber dazu, ihren Alkoholkonsum zu reduzieren.
Wer sich für Kontrolliertes Trinken entscheidet, erlernt nach einer umfassenden Diagnose zu Beginn der Behandlung, in zehn Schritten einen gesunden Umgang mit Alkohol. Dazu gehört zum Beispiel, mögliche Risikosituationen zu erkennen. Betroffene beschäftigen sich auch damit, wie viel Alkohol in bestimmten Getränken enthalten ist.
Ein weiterer wichtiger Schritt ist es, ein Trinktagebuch zu führen. Darin wird der eigene Alkoholkonsum notiert und konkrete Trinkziele gesetzt: Wie viel trinke ich aktuell und wie viel weniger möchte ich in der nächsten Woche trinken? So soll Schritt für Schritt der Konsum verringert werden. Oft besuchen die Teilnehmenden nach dem Programm eine Nachsorgegruppe. Durch den Austausch mit anderen fällt es vielen leichter, mit gefährdenden Situationen umzugehen.
Früher galt Abstinenz als einzige Option
Lange Zeit galt Abstinenz, also der absolute Verzicht auf Alkohol, als die einzige Therapiemöglichkeit. Auch heute sind Abstinenztraining und Entgiftung immer noch die klassischen therapeutischen Maßnahmen, die zudem von der Krankenkasse finanziert werden.
Das beruht vor allem auf einem Krankheitsverständnis aus den 1960er-Jahren. So hieß es in dem damals veröffentlichen Buch "Das medizinische Krankheitsmodell des Alkoholismus" von Elvin Morton Jellinek, dass die Neigung zum Alkoholismus weitgehend genetisch vorbestimmt sei: Entweder man war Alkoholiker oder nicht, es gab keine Abstufungen. Das Erlernen des kontrollierten Trinkens war damit unmöglich.
Bessere Chancen mit kombinierten Therapien
Heute ist das Kontrollierte Trinken zwar nicht Lehrmeinung und wird noch nicht von der Rentenversicherung anerkannt und folglich in der stationären Reha nicht finanziert. Dennoch hat es inzwischen einen festen Platz in der therapeutischen Arbeit und verbreitet sich mehr und mehr in Suchtkliniken. Es ist wissenschaftlich untersucht und hilft vielen. Am Ende gelangen sogar 20 bis 30 Prozent der Teilnehmenden über das Programm zur Abstinenz.
Neben dem Kontrollierten Trinken und dem absoluten Alkoholverzicht können auch Medikamente helfen, den Suchtdruck zu verringern. Manche lösen sogar eine Alkoholunverträglichkeit aus - wer trinkt, muss sich erbrechen. Fachleute halten eine rein medikamentöse Behandlung ohne begleitende Therapie allerdings für nicht ausreichend, da die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls sehr hoch ist.
Auch der regelmäßige Besuch einer Selbsthilfegruppe ist für viele alkoholkranke Menschen wichtig, um ihre Sucht auch langfristig in den Griff zu bekommen. Zusätzlich können Online-Angebote und Selbstlern-Ansätze helfen. Wichtig ist Experten zufolge jedoch, dass alkoholsüchtigen Personen verschiedene Therapieansätze angeboten werden.