Ethik in der Forschung Hirnstrukturen aus dem Reagenzglas
Um das menschliche Gehirn besser zu verstehen, wird weltweit an sogenannten Hirnorganoiden geforscht, die aus menschlichem Gewebe gezüchtet werden. Das wirft neue Fragen der Medizinethik auf.
Es klingt wie aus einem Science-Fiction-Film: Forschende lassen im Labor menschliches Hirngewebe wachsen, das sie sogar in Tiere wie beispielsweise Ratten einpflanzen und damit deren Verhalten steuern. Ein sinnvoller Fortschritt? Die Leopoldina hat zur Forschung mit Hirnstrukturen aus dem Labor erstmals umfangreich Stellung bezogen.
Forschung ohne Tierversuche
Die Suche nach Therapien für neurologische Erkrankungen wie Epilepsie ist mühsam. Denn die Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu erforschen ist nicht ganz einfach: Anhand von klinischen Studien lassen sich nur begrenzt Erkenntnisse gewinnen. So kann man zum Beispiel Hirnströme messen, aber man kann nicht sehen, welche Stoffwechselprozesse bei bestimmten Krankheitsbildern genau im Gehirn ablaufen. Auch Tierversuche sind umstritten und zudem oft ungenau, da zu viele Unterschiede zum Menschen bestehen.
In der Forschung konzentriert man sich deshalb immer mehr auf sogenannte Organoide. Das sind Stammzellen, die beispielsweise aus menschlicher Haut gewonnen werden, und im Labor so herangezüchtet werden, dass sie ganze Organe nachbilden. Sie funktionieren ähnlich wie die tatsächlichen Organe und können in Nährlösungen kultiviert werden.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hoffen, mit Hirnorganoiden Erkenntnisse über die Entwicklung und Funktion des menschlichen Gehirns zu gewinnen. Auch neurologische und psychiatrische Erkrankungen könnten so besser verstanden und ganz neue Therapien erforscht werden. Dabei geht es besonders um komplexe Krankheiten wie Alzheimer und Autismus.
Grenzen von Organoiden
Doch auch Organoide stoßen an ihre Grenzen: Wie ein Organ beispielsweise mit anderen Körperfunktionen interagiert, kann im Labor nicht nachgebildet werden. Zudem ist die Lebensdauer von Organoiden begrenzt.
Eine Verpflanzung von Organoiden in einen lebenden Organismus würde diese Grenzen umgehen. Erst kürzlich ist es Forschern erstmals gelungen, ein menschliches Hirnorganoid in das Gehirn einer Ratte zu integrieren. Und mehr noch: Die Nervenzellen integrierten sich so weit in das Gehirn der Nagetiere, dass sie deren Verhalten beeinflussen konnten.
Umstrittene Chimären
Auf diese Weise entsteht eine sogenannte Chimäre - ein Organismus, der aus Zellen mit unterschiedlicher genetischer Ausstattung besteht. In der Medizinethik sind Chimären umstritten - vor allem dann, wenn es sich um eine Verbindung aus Mensch und Tier handelt.
Es stellen sich Fragen nach den Grenzen und Konsequenzen einer "Vermenschlichung” der Tiere, und ob sie etwa besonders geschützt werden müssen. So ist unklar, ob derartige Experimente womöglich die kognitiven Fähigkeiten der Tiere verändern können und ob sie den Tieren Leid zufügen.
Leopoldina bezieht Stellung
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat sich nun in einer Stellungnahme zur Verwendung von Hirnorganoiden geäußert. "Es ist extrem wichtig, dass man die Bedenken, die es in der Bevölkerung gibt, gegenüber dieser Art von Forschung sehr ernst nimmt und sehr breit und auch unvoreingenommen diskutiert", betont Professor Jürgen Knoblich, der an der Stellungnahme mitgewirkt hat, gegenüber tagesschau24.
Was den medizinischen Nutzen angeht, sehen die Autorinnen und Autoren der Stellungnahme großes Potenzial in der Forschung mit Hirnorganoiden. Von einer Nachahmung menschlichen Bewusstseins sei man aktuell noch sehr weit entfernt. Allerdings entwickle sich das Forschungsfeld so rasant, dass die Forschung mit Hirnorganoiden in Zukunft möglicherweise durch eine spezielle Ethikkommission reguliert werden müsste.