Internationale Konferenz in Berlin ME/CFS - eine kaum erforschte Krankheit
Muskel- oder Kopfschmerzen und schwere Erschöpfung: Das sind einige Symptome, die zu ME/CFS gehören. Die Zahl der Erkrankungen ist mit der Corona-Pandemie größer geworden. Medizinerin Scheibenbogen über den Stand der Forschung.
tagesschau.de: Long Covid, das Fatigue-Syndrom und ME/CFS - das sind verschiedene Begriffe. Lassen Sie uns die erstmal sortieren.
Carmen Scheibenbogen: Long Covid ist ein Überbegriff, der von den Patienten geprägt wurde und meint alle Patienten, die vier Wochen nach der Infektion anhaltende Symptome haben. Inzwischen hat die WHO das besser definiert als Post-Covid-Zustand. Das sind die Menschen, die nach drei Monaten noch anhaltend krank sind.
Der Begriff ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) ist eine ganz eigenständige Erkrankung, die wir auch schon lange kennen, als Folgezustand unterschiedlicher Infektionen. ME/CFS gehört auch zum Spektrum der Folgeerkrankungen von Long Covid, und diese Patienten sehen wir natürlich jetzt seit Sommer 2020 oft.
Carmen Scheibenbogen ist Internistin und Hämatoonkologin. Sie leitet die Immundefekt- Ambulanz und das Fatigue-Centrum an der Charité in Berlin. Sie ist kommissarische Direktorin des Instituts für Medizinische Immunologie. Sie erhielt für ihren Einsatz für die Belange von Menschen, die unter ME/CFS leiden, das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Belastungsintoleranz als typisches Symptom
tagesschau.de: Und zu dem Thema ME/CFS findet nun ein internationaler Kongress in Berlin statt. Lassen Sie uns auf die Patienten schauen, mit welchen Symptomen kommen die zu Ihnen in die Sprechstunden?
Scheibenbogen: Das Krankheitsbild ME/CFS ist vor allem charakterisiert durch eine sogenannte Belastungsintoleranz. Das heißt, dass oft schon leichte Alltagsaktivitäten - wie zum Beispiel sich selbst versorgen oder der Gang zum Einkaufen - für die Patienten zu anstrengend sind und es dann zu einer Verschlechterung aller Symptome führt.
Und diese Symptome sind vielfältig. Nicht nur die Fatigue gehört dazu, zu dieser Erkrankung gehören auch immer Schmerzen, schwere Konzentrationsstörungen und Kreislaufprobleme. Das heißt, oftmals ist es gar nicht möglich, längere Zeit zu stehen um sich zum Beispiel etwas zum Essen zu kochen, weil der Person dann schwindlig wird. Diese Belastungsverschlechterung kann auch dazu führen, dass es nicht nur tage- sondern wochenlang sehr viel schlechter geht und man dann oft wirklich im dunklen Zimmer liegen muss.
Viele Erkrankte können nicht mehr arbeiten
tagesschau.de: Wie erkennen Sie, dass es sich um ME/CFS handelt?
Scheibenbogen: Die Patienten haben oft einen langen Weg hinter sich und haben noch keine Diagnose. Viele suchen sich dann selbst im Internet Rat und finden dann Informationen bei uns. Die meisten sind so krank, dass sie nicht mehr arbeiten können. Und wenn sie dann zu uns kommen, dann machen wir unterschiedliche Untersuchungen. Wir schauen uns zum einen an, wie schwer sind die Symptome ausgeprägt? Man kann diese verminderte Kraft gut messen, man kann die Kreislaufprobleme gut messen. Die vielen unterschiedlichen Symptome kann man auch mithilfe von Fragebögen erfassen. Und dann haben wir sogenannte Diagnosekriterien. Und wenn dann bestimmte Symptomkonstellationen vorliegen, dann kann man die Diagnose mit ME/CFS stellen.
Krankheit wurde oft für Burnout oder Depression gehalten
tagesschau.de: Was löst eine solche Erkrankung aus?
Scheibenbogen: Das Krankheitsbild ist relativ komplex, nicht nur von den Symptomen, sondern auch von den Krankheitsmechanismen. Das ist mit ein Grund, warum diese Erkrankung bis heute nicht so gut in der Medizin versorgt wurde. Oft wurde das Krankheitsbild nicht gut verstanden und zum Beispiel falsch eingeordnet im Sinne eines Burnouts oder einer Depression.
Was wir heute aber wissen ist, dass nach der Infektion das Immunsystem erstmal nicht zur Ruhe kommt, wir sehen also anhaltende Entzündungen. Das haben wir auch in den letzten zwei Jahren durch Long Covid gelernt. Was wir auch sehen, sind sogenannte Auto-Antikörper, das heißt, die Antikörper, die wir gegen die Infektion bilden, können sich bei einigen Menschen auch gegen Körperstrukturen richten und können dadurch zu Fehlfunktionen führen.
Bei ME/CFS sehen wir insbesondere, dass die Funktion des Nervensystems gestört ist. Und zwar der Anteil des Nervensystems, der die unbewussten Dinge steuert: wie schnell unser Herz schlägt, wie wir atmen, wie wir unser Blut bei Belastung verteilen. Das ist bei diesen Patienten alles durcheinandergekommen. Und das erklärt auch viele dieser schweren Symptome.
Wenn ich zum Beispiel nicht genug Blut im Gehirn habe, dann kann ich auch nicht gut denken. Und wenn ich nicht genug Blut in der Muskulatur habe, dann kann ich nicht gut laufen. Und wenn ich das Blut nicht richtig verteile, dann kann ich mich auch nicht hinstellen. Und das sind jetzt genau die Themen, mit denen wir uns auch in den nächsten zwei Tagen auf dem Kongress beschäftigen werden: diese unterschiedlichen Krankheitsmechanismen, Autoimmunität, aber auch Durchblutungsstörung.
Bisher können nur Symptome behandelt werden
tagesschau.de: Wenn die Diagnose ME/CFS bestätigt ist, welche Behandlungsmethoden gibt es mittlerweile?
Scheibenbogen: Das ist das große Problem: Die Erkrankung wurde bislang nicht gut erforscht. Und dazu gehört auch, dass weltweit kaum Therapiestudien durchgeführt wurden und es bis heute keine Medikamente gibt, mit denen wir die Erkrankung gezielt behandeln können und damit auch Heilung ermöglichen würden. Das heißt, wir sind bis heute nur in der Lage, die Symptome zu behandeln.
Menschen leiden zum Beispiel oft auch an schweren Schlafstörungen - das kann man ganz gut behandeln, auch die Kreislaufprobleme. Aber was es ganz dringend braucht, sind sogenannte Therapiestudien, denn wir können Medikamente nur dann für eine Erkrankung einsetzen, wenn sie auch in klinischen Studien Wirksamkeit gezeigt haben und dann am Ende eine Zulassung bekommen.
International laufen jetzt erste dieser Therapiestudien, überwiegend bei Post Covid und teilweise auch bei ME/CFS. Auch an der Charité haben wir eine klinische Studienplattform aufgebaut, die Nationale Klinische Studiengruppe, in der wir Medikamentenstudien bei ME/CFS und Post Covid durchführen möchten. Die ersten Studien haben auch schon begonnen.
Es wird wahrscheinlich nicht ein Medikament für alle geben
tagesschau.de: Was ist bei den Studien wichtig?
Scheibenbogen: Für uns ist es ganz wichtig, dass wir die Studien mit einer umfangreichen Erforschung der Krankheitsmechanismen begleiten können. Das heißt, dass wir bei jedem Patienten, der in unseren Therapiestudien behandelt wird, genau schauen: Welche Biomarker sind auffällig und wie verändern die sich unter der Behandlung? Und wir schauen uns auch genau an, wie schwer die Erkrankung ist, zum Beispiel die Ausprägung der Durchblutungsstörung und wie sich das unter der Behandlung verändert. Und so hoffen wir, am schnellsten auch besser zu verstehen, welche Krankheitsmechanismen wir durch diese Medikamente behandeln können und auch bei welchem Patienten welcher Mechanismus relevant ist.
Es wird bei ME/CFS und Post Covid nicht anders sein als bei anderen komplexen Erkrankungen. Kein Medikament kann allen Patienten helfen, wir werden also viele unterschiedliche Medikamente prüfen müssen. Am Ende werden wir hoffentlich eine ganze Reihe unterschiedlicher Medikamente zugelassen haben, damit wir alle Patienten wirksam behandeln können.
Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redigiert.