Ein Kind wird gegen Polio geimpft
interview

Risiko durch Kinderlähmung "Wir müssen weiter gegen Polio impfen"

Stand: 31.08.2024 16:16 Uhr

Im Gazastreifen ist der erste Fall von Kinderlähmung bestätigt worden - heute soll eine groß angelegte Impfkampage starten. Immunologe Förster plädiert im Gespräch mit der tagesschau für umfangreiche Hilfe.

tagesschau.de: Herr Förster. Kinderlähmung. War die nicht eigentlich ausgerottet?

Reinhold Förster: Ja, das dachte man, dass die Kinderlähmung ausgerottet war. War sie aber nicht wirklich. Wir müssen hier zwei Dinge unterscheiden. Das eine ist die westliche Welt, in der wir tatsächlich seit vielen Jahren kaum noch Probleme mit Kinderlähmung haben, sporadisch, ab und zu ganz wenig Fälle. Und das muss unterschieden werden von den weniger entwickelten Teilen dieser Welt. Und da sind natürlich immer Afrika zu nennen, Afghanistan, aber auch die Bereiche, in denen Krieg vorherrscht.

Reinhold Förster
Reinhold Förster

Reinhold Förster ist Immunologe. Er forscht und lehrt an der Medizinischen Hochschule Hannover. Förster ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.

tagesschau.de: Wie kann man sich mit Polioviren infizieren?

Förster: Es geschieht meistens über den Mund und zwar über kontaminiertes Wasser oder Essen. Das Poliovirus ist ein Virus, das eigentlich den Darm befällt, dort die Zellen im Darm infiziert und nach einigen Tagen in einer großen Menge mit dem Kot ausgeschieden wird. Pro Gramm Stuhl findet man bis zu einer Milliarde infektiöse Viren.

Die meisten Infektionen verlaufen ohne Symptome

tagesschau.de: Wie sehen die Symptome einer Polioerkrankung aus?

Förster: Bei ungefähr drei Viertel derer, die sich infiziert haben, verläuft die Infektion vollkommen symptomlos. Sie merken gar nicht, dass sie sich infiziert haben. Ein Teil der Menschen entwickelt eine unspezifische Symptomatik: Abgeschlagenheit, manchmal etwas Halsschmerzen, Fieber und nach drei, vier, fünf Tagen ist es wieder weg.

Bei anderen ist es dann so, dass nach neun bis zwölf Tagen Erbrechen und Durchfall dazukommt. Bei einem großen Teil heilt es wieder und das war's.

Aber bei ungefähr einem Prozent der Infizierten gelangt das Virus aus dem Darm über das Blut ins Rückenmark und befällt dort Nerven. Diese Nervenendigungen sind die sogenannten Motoneuronen. Sie sind dafür zuständig, dass wir unsere quergestreifte Muskulatur bewegen können, also Arme, Beine, Hände, auch das Zwerchfell. Aufgrund der Infektion und der danach folgenden Immunantwort kommt es zur Zerstörung dieser Motoneuronen. Die Nerven können die Muskeln nicht mehr steuern, und somit hat man Lähmungserscheinungen.

Bei besonders schlimmen Fällen sind die Muskulatur zwischen den Rippen und das Zwerchfell betroffen, die die Atmung steuern. Wenn diese Nerven beschädigt werden, kann man nicht mehr atmen.

In Gaza kommt Fäkalwasser in Kontakt mit Trinkwasser

tagesschau.de: Schauen wir nach Gaza: Viele Menschen auf engem Raum, das ist wahrscheinlich die perfekte Umgebung für Viren, oder?

Förster: Das ist die perfekte Umgebung vor allem für diese Art von Viren. Wie gesagt, es sind eigentlich Viren, die im Darm leben, mit dem Kot ausgeschieden werden und so ins Abwasser gelangen. Und in Bürgerkriegssituationen oder in Kriegssituationen ist es natürlich so, dass die Infrastruktur sehr schnell kaputt ist. Das heißt, es kommt Fäkalwasser in Kontakt mit den Quellen, aus denen das Trinkwasser gewonnen wird. Das heißt, wir haben eine starke Belastung mit dem Virus auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Kinder, die nicht mehr in dem Maße geimpft werden, wie es in normalen Zeiten der Fall ist.

tagesschau.de: Was muss jetzt im Gazastreifen passieren?

Förster: Es sind im Wesentlichen zwei Dinge: Das eine ist, die Kinder und alle Personen, die nicht geimpft sind, müssen geimpft werden. Es gibt keine Heilung, es gibt keine Therapie, man kann nur prophylaktisch impfen. Und das ist relativ schnell umsetzbar. Die Impfstoffe sind weltweit vorhanden und extrem sicher.

Und das zweite, was man ändern müsste, was aber in der Schnelle nicht geht, ist die Wiederherstellung der Infrastruktur. Abwässer müssen von frischem Wasser getrennt sind.

Impfsituation in Deutschland momentan gut

tagesschau.de: Schauen wir nach Deutschland. Wie ist die Impfsituation hier einzuschätzen?

Förster: Die Impfsituation in Deutschland ist momentan als relativ gut einzuschätzen. Es ist Teil des Impfprogramms, was bei den U-Untersuchungen durchgeführt wird. Und hier werden im Prinzip drei Impfdosen im Rahmen der Grundimmunisierung appliziert, im Alter von ungefähr zwei Monaten, vier Monaten und elf Monaten. Und dann gibt es im Alter zwischen neun und 15 Jahren noch mal eine Auffrischungsimpfung. Wer diese Impfungen bekommen hat, der ist geschützt.

Jetzt gibt es bei uns bestimmte Gruppen, die diese Impfung nicht so gerne haben. Und wenn Kinder nicht geimpft sind, besteht immer potenziell die Gefahr, dass es zu einem zirkulierenden Impfvirus kommt, dann ist die Gefahr natürlich da, dass man sich infizieren kann. Momentan ist die Gefahr relativ gering. Wir hatten die letzte Infektion in Deutschland im Jahr 1990. Aber wenn die Impfquote weiter zurückgeht, erhöht sich natürlich die Gefahr permanent.

"Wir müssen weiter impfen"

tagesschau.de: Was denken Sie, was braucht es, dass wir das Problem Polio im Blick behalten?

Förster: In den 1960ern, 70ern, 80ern gab es große Impfkapagnen, die wirklich erfolgreich waren. Innerhalb weniger Jahre wurde die Kinderlähmung um 99 Prozent reduziert. Was wir machen müssen: Bis wirklich der letzte Fall von dieser Erde verschwunden ist, müssen wir weiter impfen.

Wir müssen aber vor allem dafür Sorge tragen, dass dies dort der Fall ist, wo Bürgerkrieg herrscht, wo hygienische Situationen sehr schlecht sind, damit es nicht zu den Ausbrüchen kommt, so wie wir sie punktuell erleben und jetzt in Gaza wieder erstmalig auch gesehen haben.

Das Gespräch führte Bernd Großheim. Es wurde für die schriftliche Version gekürzt und redigiert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 30. August 2024 um 12:00 Uhr.