"Klimaküche Europas" Wie das Schmelzen der Arktis unser Wetter beeinflusst
Die Arktis verändert sich durch die Erderwärmung in atemberaubendem Tempo. Das wirkt sich direkt auf uns aus. Ein Besuch in Grönland zeigt, welche Folgen schmelzende Gletscher auf unser Wetter haben.
Ihr Arbeitsplatz gehört für Josephine Nymand zu den schönsten Orten der Welt: Weit im Westen Grönlands, nur 300 Kilometer unterhalb des Nördlichen Polarkreises, liegt der Kobbefjord. In der Bucht mit ihren felsigen Ufern und der kargen Vegetation befindet sich ein besonderer Beobachtungspunkt der Klimaforschung. Seit 30 Jahren messen Wissenschaftler wie Nymand hier die Entwicklung der Temperaturen, des Windes und der Niederschläge. Ein seltenes Langzeitprojekt.
Die grönländische Wissenschaftlerin Josephine Nymand beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Phänomen des Klimawandels.
Wetter- und Klimaküche Europas
Als Inuit hat Josephine Nymand ein tiefes Gespür für den Wandel der Eis- und Schneewelt ihrer Heimatinsel. Als Biologin und Direktorin des grönländischen Natur-Instituts hat sie Daten, die bestätigen: "Das Eis schmilzt immer schneller, vor allem am Rand der Gletscher wie hier." Der Eispanzer Grönlands verliert an seinen Rändern einer Studie zufolge pro Jahr derzeit etwa 265 Milliarden Tonnen Eis. Das entspricht einem Stundendurchschnitt von 30 Millionen Tonnen.
Und das hat massive Auswirkungen - nicht nur auf die Menschen in Grönland, sondern in ganz Europa.
Die Arktis gilt als Wetter- und Klimaküche Europas. "Hier entscheidet sich, ob die Wetterextreme, die wir erleben, sich immer weiter verstärken", sagt der Meteorologe und ARD-Wetterexperte Sven Plöger. Der weltweite Anstieg des Meeresspiegels und das dadurch erhöhte Risiko schwerer Sturmfluten ist nur eine der Folgen, die die Veränderungen in der Arktis nach sich ziehen können.
ARD-Doku "Wie extrem wird das Wetter, Sven Plöger? Wenn die Arktis schmilzt" Am 3. Februar 2025 um 20:15 Uhr im Ersten und danach in der ARD-Mediathek
Einfluss auf den polaren Jetstream
Forschende befürchten, dass das Schmelzen der Gletscher auch Einfluss auf den polaren Jetstream und damit auf das Wetter in ganz Europa hat. Das Windband entsteht durch die unterschiedlichen Temperaturen zwischen Arktis und Äquator. Mit bis zu 500 Kilometern pro Stunde umströmt es den Globus und prägt unser Wetter. Hoch- und Tiefdruckgebiete wandern in den Wellen des Windes voran.
Durch das Gletscherschmelzen erwärmt sich die Arktis jedoch deutlich stärker als der Rest des Planeten. Denn die Land- und Wasseroberflächen, die unter dem Eis zum Vorschein kommen, heizen sich aufgrund ihrer dunklen Farbe stärker auf als das helle Eis, dadurch schmelzen wiederum mehr Gletscher, und neue dunkle Böden werden freigelegt. Polare Verstärkung nennt sich das, oder auch: Teufelskreis.
Der Temperaturunterschied zwischen Arktis und Äquator nimmt also ab. In der Folge könnte der Jetstream an Kraft verlieren und immer langsamer werden, so die Annahme der Forschenden.
Schon jetzt ziehen Hoch- und Tiefdruckgebiete in Europa oft über Tage oder Wochen kaum weiter. Aus diesem "Standwetter" können sich dann schwere Gewitter, lang anhaltende Regenfälle oder Hitzewellen entwickeln.
Mehr Forschung nötig
Doch nicht immer sei der Jetstream schuld, und überhaupt sei das alles nicht so einfach, sagt ARD-Wetterexperte Plöger. Bei der Entstehung von Extremwetterereignissen gebe es auch "eine jahreszeitliche Abhängigkeit". Zudem zeigten Studien, "dass sich die höhere tropische Atmosphäre erwärmt, was den Jetstream dann wieder beschleunigen würde".
Zuverlässige Daten zum Jetstream liegen erst seit den 1980-er Jahren vor. Für Forschende ist dieser Zeitraum noch zu kurz, um gesicherte Aussagen über Zusammenhänge zwischen der Erwärmung der Arktis, den Veränderungen des Jetstreams und Extremwetterlagen treffen zu können.
Genau deshalb braucht es mehr Forschung wie die von Josephine Nymand im Kobbefjord oder die von Jakob Abermann. Abermann ist Meteorologe und Glaziologe an der Uni Graz und untersucht die Qaamarujup-Gletscher weiter im Norden Grönlands, nahe der Siedlung Uummannaq. Die Klimaforschung hat in diesem Fjordsystem Tradition: Schon vor rund 100 Jahren begannen Entdecker hier, die Wechselwirkung zwischen dem Eis und der Atmosphäre zu messen.
Auf den Spuren Alfred Wegeners
1930 startete am Fuße des Gletschers eine der legendärsten Polarforschungsexpeditionen aller Zeiten. Der deutsche Meteorologe und Geologe Alfred Wegener hatte sich vorgenommen, ein Jahr lang die Veränderungen in der Region zu messen.
Jakob Abermann will "diese fantastischen, visionären Daten von Alfred Wegener von vor fast 100 Jahren nutzbar machen für moderne Klimaforschung". Durch Wegeners Arbeit kann er zum Beispiel sehen, dass der Gletscher in den vergangenen 95 Jahren um zwei Kilometer geschrumpft ist.
Auch Forscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung beschäftigt sich mit dem Gletscherschwund und seinen Auswirkungen auf unser Wetter. In einer Studie haben Rahmstorf und andere gezeigt, dass der Golfstrom so langsam ist wie seit mindestens 1.000 Jahren nicht mehr. Er ist Teil des atlantischen Strömungssystems, das für vergleichsweise mildes Klima in West- und Nordeuropa sorgt.
Verlangsamter Golfstrom
Für die Forschenden gibt es für die Verlangsamung des Golfstroms keine andere plausible Erklärung als die Erderwärmung. Wenn etwa durch das Schmelzen des Eisschilds in Grönland immer mehr Süßwasser in den Nordatlantik fließt, senke das den Salzgehalt an der Wasseroberfläche und damit die Dichte, so die Forscher. Das kalte Oberflächenwasser sinke langsamer in die Tiefe, die Zirkulation werde abgebremst. So fließe auch weniger warmes Wasser aus dem Süden in den Norden.
Einige Folgen des verlangsamten Golfstroms würden wir bereits heute sehen, sagt Rahmstorf in einem Interview mit der Zeit: den regional starken Anstieg des Meeresspiegels etwa. In Europa könnte es außerdem zu extremen Hitzewellen im Sommer und massiven Kältewellen im Winter führen.
Folgen wären dramatisch
Ob es tatsächlich so kommen wird, lässt sich noch nicht sicher vorhersagen. Sicher ist jedoch, dass die Folgen dieser Entwicklung dramatisch wären. Die atlantische Umwälzbewegung und der Grönländische Eisschild gelten als Kippelemente des Klimasystems. Schon geringe äußere Einflüsse können ausreichen, um starke Veränderungen auszulösen, die sich nicht mehr umkehren lassen. "Wir sollten es nicht darauf ankommen lassen", meint ARD-Wetterexperte Sven Plöger.
Mit Informationen von Lars Abromeit, Julia Klüssendorf und Sven Plöger