USA beenden Einsatz "Es ging nie um Afghanistan"
Der Afghanistan-Einsatz der USA scheiterte, auch weil es Washington nie um das Land ging, sagt der Experte Conrad Schetter im Interview mit tagesschau.de. Aber auch die Bundespolitik habe jahrelang ihren Zielen keine Taten folgen lassen.
tagesschau.de: Die Amerikaner beenden nach 20 Jahren ihren Einsatz in Afghanistan und sind selbst entsetzt über ihr Scheitern: Was war der entscheidende Fehler bei diesem Einsatz?
Conrad Schetter: Es sind viele Fehler gemacht worden. Der erste Fehler, wie bei vielen Interventionen: Es ging nie um das Land selbst, es ging nie um Afghanistan. Die westliche Welt hat sich immer sehr um ihre eigenen Interessen gedreht. Das heißt: Man hat nie versucht, Afghanistan zu verstehen und einen Weg aus der afghanischen Perspektive heraus zu entwickeln. Das hat sich durch die gesamte Intervention hindurchgezogen. Das politische Modell für das Land wurde am Reißbrett in Brüssel und Washington entworfen. Afghanistan hat 40 Jahre Krieg erlebt, ist gesellschaftlich sehr traditionell geprägt - und das, was die Afghanen selbst wollten, ist nicht richtig zur Sprache gebracht worden.
Doppelte Standards - die ganze Zeit
tagesschau.de: 2001 ging es zunächst darum, die Taliban zu besiegen, Al Kaida zu vertreiben - wenn ich Sie richtig verstehe, gab es darüber hinaus keine Vorstellung davon, was man in Afghanistan wollte und wie man es anstellen sollte?
Schetter: Es gab immer Widersprüche - militärisch und politisch. Auf der einen Seite hat man im Land Krieg geführt und die Taliban gejagt, auf der anderen Seite hat man den Afghanen versprochen, für ihre Sicherheit zu sorgen. Das war für die Afghanen nicht nachzuvollziehen. In der Politik hat man Demokratie gepredigt, dann aber hinter verschlossenen Türen die Interessen des Westens durchgesetzt, etwa bei der Frage, wer Präsident wird. Da wurden demokratische Spielregeln außer Kraft gesetzt. Diese doppelten Standards haben die Afghanen die gesamten 20 Jahre über erlebt.
tagesschau.de: Wäre es richtig gewesen, nach der Intervention auf Teile der besiegten Taliban zuzugehen?
Schetter: Ich habe schon 2001 gesagt, dass man mit den Taliban sprechen müsse. Das war damals allerdings nicht möglich. Unter dem Schock der Anschläge vom 11. September gab es eine Dämonisierung der Taliban, die eine Einbindung in die damaligen Afghanistankonferenzen unmöglich machten. Man hat auch in den Jahren danach geglaubt, man werde die Taliban zerschlagen und einen eindeutigen Sieg davontragen. Aber schon 2003/2004 hatten sich die Taliban reorganisiert, und seitdem war ein kontinuierlicher Machtzuwachs der Taliban im Land zu beobachten.
Unterschiedliche Ansätze
tagesschau.de: Und 2003 folgte schon der nächste Krieg der USA - der Angriff auf den Irak. War da, wie manche Beobachter meinen, die Beschäftigung mit Afghanistan bereits beendet?
Schetter: Es gab immer eine starke Diskussion zwischen den Europäern und den USA. Die USA haben stets betont, dass sie in Afghanistan kein "nation building" machen. Für die Europäer war dagegen stets wichtiger, den Einsatz unter die Entwicklung von Staat und Gesellschaft zu stellen, indem ein "liberaler Frieden" erzielt wird. Für die Amerikaner ging es viel mehr um die Vergeltung für 9/11, und diese Mission war bald größtenteils erreicht - spätestens, als man 2011 Osama bin Laden aufgespürt und getötet hat.
tagesschau.de: Aber ist der Gedanke nicht kurzsichtig, man könne ein Land - zumal ein rückständiges wie Afghanistan - angreifen, seine militärischen Ziele durchsetzen und danach wieder die Dinge sich selbst überlassen?
Schetter: Das US-Militär wurde nie auf einen Einsatz in Afghanistan vorbereitet. Bis in die höchsten Ebenen hinein wusste man wenig über das Land. Das amerikanische Militär ist so sehr von der eigenen Überlegenheit überzeugt, dass man die Gesellschaften, in die man hineingeht, ziemlich ignoriert. Deshalb hat man gerade in den ersten Jahren viel Porzellan zerschlagen. Erst als General Stanley McChrystal 2009 Kommandeur der ISAF wurde, kam der Gedanke auf, man müsse die Herzen und die Köpfe der Afghanen gewinnen. Das war ein Wendepunkt in der amerikanischen Militärpolitik, weil man sich bis dahin aus der eigenen Überlegenheit heraus nicht auf gesellschaftliche Strukturen in einem Interventionsland einlassen wollte.
Was von außen nicht erzwungen werden kann
tagesschau.de: Das Konzept des "nation building" fußt auch auf den positiven Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber in beiden Staaten gab es ausgeprägte staatliche Strukturen, auf ihre Art funktionierende Institutionen und doch auch eine demokratische Tradition. All das gab es in Afghanistan in dem Maße nicht. Setzt das nicht der Übertragbarkeit eines solchen Konzepts Grenzen?
Schetter: Absolut. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten erlebt, dass ein von außen erzwungenes "nation building" nicht funktionieren kann. Wir erleben auf dem Balkan, wie lange es dauern kann, die erforderlichen Institutionen aufzubauen, und in Afghanistan war das um ein Vielfaches schwieriger. Die afghanische Gesellschaft ist divers - nicht nur ethnisch, sondern auch in ihren Lebenswelten. Politische Institutionen wurden nur rudimentär aufgebaut, Parteien waren immer verboten und bei den Wahlen seit der Intervention nicht zugelassen - auch das war meines Erachtens ein Fehler, weil man sich sehr auf Individuen konzentriert und Klientelpolitik betrieben hat, die im Gegensatz zu einem Institutionenaufbau steht.
tagesschau.de: Welche Rolle spielte hier die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes? Die Bundesrepublik hat ja nach 1945 bald ein Wirtschaftswunder erlebt, was die Identifikation mit dem neuen System sicher erleichtert hat.
Schetter: Afghanistan ist zwar einer der ärmsten Staaten der Welt, aber es gab eine enorme Gewaltökonomie - durch den Drogenanbau und -handel. In der Provinz Helmand wird mehr als die Hälfte der weltweiten Gesamtmenge an Opium angebaut. Ich war immer der Ansicht, dass es da nicht so wichtig ist, wer in der Provinz regiert, sondern wer sich auf den Opiumanbau einlässt. Afghanistan hat wirtschaftlich ein großes Potential. Es ist rohstoffreich und es ist in der milliardenschweren Seidenstraßen-Initiative der Chinesen das letzte fehlende Puzzlestück. Was fehlt, ist das soziale Kapital, weil die Bevölkerung in Sachen Bildungsstandard auch in der gesamten Region weit zurückliegt.
"Mitgemacht und kaum Akzente gesetzt"
tagesschau.de: Umso fataler ist das Scheitern des Einsatzes. In der Bundesrepublik ist das Afghanistan-Mandat regelmäßig vom Bundestag verlängert worden, stets mit vollmundigen Bekenntnissen zur Entwicklung des Landes. Muss man jetzt nicht konstatieren, dass Regierung und Abgeordnete nicht genau genug hingeschaut haben?
Schetter: Das muss man unterstreichen. Das war vielleicht in den ersten Jahren des Einsatzes anders. Aber danach hieß es hinter vorgehaltener Hand immer, dass man als Abgeordneter mit dem Thema Afghanistan bei den Wählern keinen Blumentopf gewinnen könne. Das Thema war, salopp gesagt, nicht sexy. Deswegen haben sich nur wenige damit befasst. Zugleich hat sich die deutsche Afghanistan-Politik stets stark über die Abhängigkeit von den Amerikanern definiert. Man hat mitgemacht, selbst aber kaum Akzente gesetzt. Gerade beim Übergang von Präsident George W. Bush zu Barack Obama hätte die Bundesregierung eigene Konzepte einbringen können - das ist nicht geschehen. Man war passiv, hat es laufen lassen, jährlich das Mandat verlängert, wollte aber wenig von dem Land wissen.
tagesschau.de: Umso wichtiger ist die Frage, welche Lehren die Bundespolitik und die EU aus diesem Scheitern ziehen, denn die Debatte über eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist ja jetzt wieder eröffnet. Was nimmt man aus den afghanischen Erfahrungen in diese Debatte mit?
Schetter: Wir haben hier einen Scherbenhaufen, und es wird lange dauern, bis man das alles entflechtet hat und versteht, an welchen Rädern man drehen muss. Ich hoffe, dass es dazu kommt, habe aber die Befürchtung, dass es ein "Weiter so" geben wird. Wir reden zum Beispiel stets über den Bundeswehreinsatz, fragen aber viel zu selten, ob die Bundeswehr oder eine konventionelle Armee überhaupt das richtige Instrument für eine solche Intervention ist. Benötigt man nicht eher eine aufstandsbekämpfende Polizei? Brauchen wir nicht eine ganz andere Ausbildung? Die Frage wird seit 30 Jahren aufgeschoben, und keiner nimmt sich des Themas an. Und als Wissenschaftler wünsche ich mir, dass das Wissen über diese Länder nachgefragt und in die Prozesse eingebracht wird. Das findet nicht statt, vielmehr sind es die politischen Logiken, die dominieren. Man muss jetzt viele Dinge überprüfen und steht da noch ganz am Anfang.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de