Machtwechsel in Afghanistan "Totalversagen der Bundesregierung"
Frühzeitig gewarnt, viel versprochen und nichts gehalten: Der Afghanistan-Experte Ruttig kritisiert im Interview den Kurs der Bundesregierung scharf. Der Sieg der Taliban sei eine Folge gravierender Fehlentscheidungen.
tagesschau.de: Der Schock ist weltweit groß angesichts der rapiden Siegeszugs der Taliban - war das nicht absehbar vorher?
Thomas Ruttig: In diesem Tempo und auf diese Weise war es nicht absehbar. Aber seit die USA 2019 Verhandlungen mit den Taliban aufgenommen haben, war klar: Die Amerikaner priorisieren ihren Abzug und haben damit den Taliban die Tür zurück zur Macht geöffnet. Die angeblich geplante friedliche Machtübergabe oder Bildung einer Übergangsregierung hatte sich schnell erledigt. Der Präsident hat das Land verlassen - sicher nicht ohne Genehmigung der USA, die den Luftraum kontrollieren. Dann sind die Reste der afghanischen Regierung zusammengefallen, die Polizei ist weggelaufen - dadurch hatten die Taliban einen Anlass, nach Kabul einzuziehen, um mögliche Plünderungen zu unterbinden. Afghanistan ist ja voll von kriminellen Banden, die weniger mit den Taliban zu tun haben. Es ist erfreulich, dass in Kabul nicht gekämpft worden ist.
Schwierige Strukturen für Sicherheitskräfte
tagesschau.de: Die internationalen Streitkräfte haben jahrelang die afghanischen Streitkräfte ausgebildet und ausgerüstet - die sind aber bei der ersten Gelegenheit übergelaufen oder sind geflüchtet. Wie konnte man sich hier so verschätzen?
Ruttig: Man darf nicht vergessen, dass sie afghanischen Sicherheitskräfte viele Jahre unter hohen Opfern gekämpft haben. Auch unter Bedingungen, die für die einzelnen Soldaten, für die Polizisten und für die Befehlshaber sehr schwer waren, weil die Strukturen - vor allem die afghanischen Strukturen - nicht funktioniert haben. Außerdem sind die Streitkräfte ein Produkt westlicher Konzepte, und schon in der Vergangenheit gab es Warnungen, dass das keine für Afghanistan angemessene Lösungen waren.
Ausbildung und Bewaffnung sind nur technokratische Elemente – und das reicht nicht. Man muss ein Umfeld haben, für das es sich lohnt, zu kämpfen und sein Leben einzusetzen. Und man muss Vertrauen in die eigene Regierung und die eigenen Verbündeten haben. Der bedingungslose Abzug der Amerikaner und der Deutschen über Nacht, ohne konkrete Vorankündigung des Termins, hat den afghanischen Streitkräften moralisch die Beine weggezogen. Die Taliban waren sehr gut vorbereitet, haben über Jahre Kontakte in die Provinzen geknüpft, ihre Leute dort platziert, und als es soweit war, zugeschlagen - dann gab es einen Domino-Effekt. Und man darf nicht vergessen, dass die Polizisten, Soldaten und Beamten auch an ihrem Leben hängen.
Auf die falschen Leute gesetzt
tagesschau.de: Hat man im Land auf die falschen Kräfte gesetzt? Hätte man sich andere Ansprechpartner suchen müssen?
Ruttig: Man hat von Anfang an auf einen verengten und falschen Kreis von Leuten gesetzt, und damit meine ich nicht in erster Linie die Präsidenten und ihre Kabinette und Berater. Sondern ich meine die Warlords, auf die man als Hauptkraft im Kampf gegen die Taliban gesetzt hat. Man hat ihnen dafür große Teile des politischen Systems überlassen und die Augen vor ihrer Korruption, Verwicklung in den Drogenhandel, Kriegsverbrechen und schlimmsten Menschenrechtsverletzungen verschlossen. Das hat das untergraben, was eine entstehende afghanische Demokratie hätte sein können. Das war der eigentliche Fehler. Die Warlords waren das zersetzende Element in dem neuen Afghanistan, und sie haben jetzt auch nicht lange gegen die Taliban durchgehalten.
tagesschau.de: Wir sehen verzweifelte Szenen am Flughafen von Kabul - gibt es noch Chancen, das Land zu verlassen und rechnen Sie mit einer größeren Flüchtlingswelle?
Ruttig: Die Taliban kontrollieren seit langem die Grenzübergänge und es muss sich erweisen ob sie bei ihrer Zusagen bleiben, sie würden niemanden daran hindern, das Land zu verlassen. Aber die Fahrt dorthin bleibt gefährlich, und die Leute wagen nicht, sich auf den Landweg zu begeben, weil sie nicht wissen, ob nicht doch unterwegs Taliban-Kommandeure ihr Mütchen kühlen wollen. Das ist hochriskant. Wichtig wäre, dass die Amerikaner sich mit den Taliban abstimmen, dass es für die Leute im Flughafen und diejenigen davor einen geregelten Abflug geben kann. Man hat ja den ehemaligen Mitarbeitern und Partnern aus den zivilgesellschaftlichen Projekten und Journalisten zugesagt, sie auszufliegen.
Zu spät um die Ortskräfte gekümmert
tagesschau.de: Kann man noch etwas für die Ortskräfte tun?
Ruttig: Was die Ortskräfte der Bundeswehr und der zivilen deutschen Ministerien und Einrichtungen anbelangt: Die hätte man schon vor vier bis acht Wochen ausfliegen können und müssen. Dass jetzt erst Flugzeuge losfliegen, ist ein Totalversagen der Bundesregierung. In Kabul sitzen Ortskräfte fest, die auf private Initiative von Bundeswehrsoldaten und anderen gerettet wurden - und die standen lange ganz oben auf der Racheliste der Taliban. Da noch Botschaftspersonal auf dem militärischen Teil des Kabuler Flughafens ist, kann es sein, dass man sich nur noch auf die eigene Evakuierung konzentriert.
tagesschau.de: Man hat also Wochen verstreichen lassen, um Menschen zu helfen, die und jahrelang geholfen und auf die wechselseitige Solidarität vertraut haben.
Ruttig: Das wird schon sehr lange von Partnern und auch ehemaligen Partnern dieser Afghanen öffentlich kritisiert, aber die Bundesregierung hat immer wieder verzögert, hat Versprechungen gemacht, Dinge zu prüfen, die nie eingehalten wurden - das schließt auch die Bundeskanzlerin ein, die zum Beispiel über Charterflüge gesprochen hat. Während die Bundesregierung es bis noch vor wenigen Tagen für möglich hielt, Charterflüge nach Kabul zu schicken, um abgelehnte Asylbewerber abzuschieben, wollte sie die andere Maßnahme nicht ergreifen. Das ist ein riesiger Skandal. Dafür sollten sich Politiker verantworten müssen.
Kritik an zwei Ministerien
tagesschau.de: Verteilt sich das gleichermaßen auf Außen- und Verteidigungsministerium?
Ruttig: Das Verteidigungsministerium hat noch relativ gut reagiert. Es hat zwar eine Weile gebraucht, bis auch Menschen in die Evakuierungspläne einbezogen wurden, deren Beschäftigung schon länger als zwei Jahre her ist. Aber am hartleibigsten war das Bundesinnenministerium, das vorgab, eine "Flüchtlingsschwemme" vermeiden zu wollen. Und das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit haben monatelang behauptet, es betreffe ihre Leute gar nicht, denn die würden ja weiter im Land tätig bleiben.
tagesschau.de: Sollten man Sondervisa zum Beispiel für geflüchtete Frauen anbieten, wie es das schon einmal für Jesidinnen gab?
Ruttig: Dafür hätte man schon zu Beginn des Jahres entsprechende Schritte einleiten müssen, so wie es die USA gemacht haben. Es kommt alles viel zu spät. Aber es muss natürlich trotzdem gemacht werden, auch unter den jetzt sehr viel schwierigeren Bedingungen. Es gibt massenhaft Mitarbeiterinnen von Partnerorganisationen, die jetzt um ihre Leben fürchten müssen.
Ein gemäßigteres Regime?
tagesschau.de: Womit rechnen Sie im Land - eine Rückkehr zu dem archaischen System, wie es die Taliban früher ausgeübt haben?
Ruttig: Man kann nur hoffen, dass sich bestimmte Tendenzen zur Mäßigung, die es in Worten und in der Praxis in Provinzen gab, die die Taliban schon seit langem kontrollieren, auch landesweit durchsetzen und nicht nur gelten, solange die Welt noch hinschaut. Man hat die Taliban zwei Jahrzehnte lang unterschätzt und dämonisiert. Man konnte auch früher zumindest mit einzelnen Taliban reden, die zum Beispiel Mädchenschulen geschützt haben. Die Taliban sind auch nicht daran interessiert, dass das Bildungssystem zusammenbricht. Aber bisher akzeptieren die Taliban zum Beispiel immer noch nicht, dass Mädchen länger als bis zur sechsten Klasse zur Schule gehen. Das ist zwar nicht deren Erfindung , sondern ist in der konservativen Gesellschaft des Landes in weiten Gebieten Konsens. Man muss mit den Taliban arbeiten und rausholen, was man rausholen kann
tagesschau.de: Wer kann und wer wird auf sie Einfluss ausüben - weiter Pakistan, oder auch zunehmend China?
Ruttig: Pakistan hat einen großen Einfluss auf die Taliban und hat sie immer unterstützt, auch wenn seine Regierung das Gegenteil behauptet hat. Aber das heißt nicht, dass die Taliban nach der Pfeife der Pakistanis tanzen. Sie haben den Krieg gewonnen, und ob Pakistan dabei aktiv geholfen hat, ist nicht klar. Man muss die Taliban als eigenständigen Akteur sehen. Auch China, Russland und der Iran haben einen gewissen Einfluss, denn die haben ihre Beziehungen zu den Taliban normalisiert und akzeptieren sie als Realität. Aber sie werden sich nicht für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, und auch nicht für unsere Ortskräfte.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de